Die treue deiner laster
Noch vor Wochen die Nächte auf dem Zeltplatz, die mondbeleuchteten Spaziergänge zu den Waschstellen mit dem sich ausbreitenden Netz unter der Laterne, zulaufend dem festrunden Spinnenknopf in seiner Mitte wie das Straßennetz in Paris oder Barcelona und der Minzgeschmack beim Betrachten der Sternbilder über den Baumwipfeln, das feuchte Handtuch über der Schulter und das zitternde Surren des Colaautomaten…
Die Typen kleben aneinander vom Blütenstaub, der durchs Fenster hineinweht seit dem Morgen. Farblose Sonne hinter und durch die Vorhänge, die wärmt und vergisst. Niemand hat es mir gleichgetan, niemand hat den Atem angehalten, als ich es musste. Und es war recht. Unzählige Schrauben an dieser kleinen schweizer Maschine vor mir, die sich mit einem einfachen Schraubenzieher wieder festzurren ließen. Die sich verhaspelnden Buchstaben wieder in Ordnung brächten, die festgeklemmten Spinnenbeine wieder entspannten. Noch vor Wochen die Nächte auf dem Zeltplatz, die mondbeleuchteten Spaziergänge zu den Waschstellen mit dem sich ausbreitenden Netz unter der Laterne, zulaufend dem festrunden Spinnenknopf in seiner Mitte wie das Straßennetz in Paris oder Barcelona und der Minzgeschmack beim Betrachten der Sternbilder über den Baumwipfeln, das feuchte Handtuch über der Schulter und das zitternde Surren des Colaautomaten an dem kleinen Rezeptionshäuschen, das sie in einen alten Straßenbahnwaggon gebaut haben und in dem eine gelbe Lampe die ganze Nacht über angezündet bleibt.
Jetzt und endlich, die losen Schrauben dieses Hermes Babys, die grünen Tasten, der silberne Lack und die wiederbelebten Bücherregale, die Gedichte von Pasolini, die Zettel Arno Schmidts, Hunters Briefe endlich in Griffnähe. Es ist Sonntag und uns ist der Kaffee ausgegangen, aber etwas Brot ist noch da und die gesammelten Werke von Salvador Espriu - Ich schlage eine Seite auf und lese von der Erschöpfung des Traumwanderers, dem Abendrauschen der Weinblätter und fühle alles nicht mehr so sehr, nachdem ich mich den Gefühlen jetzt für beinahe ein ganzes Jahr lehnstreu ausgeliefert habe. Der Nebelwinter, vergangen und schon zur zerstückelten Erinnerung an ein vergangenes Leben geschrumpft. Die warmen Vorhänge des Jetzt, die wieder die meinen sind, zumindest mehr als zu sein scheinen.
Ich habe meinen Rückzug vergessen. Ich habe Briefe aus Nachtzügen erhalten. Ich habe mit dem Wohlwollen verhandelt. Ich habe kein Foto geschossen. Ich habe Buchseiten angelächelt. Ein paar lächelten zurück. Mir wurden keine Versprechen gemacht. Ohnmacht, Tinte und Schnee. Und der letzte Löffel Kaffeepulver an einem warmen Sonntag im Juli, zwischen Friedhöfen und taubstummen Platzanweisern an jeder Kreuzung. Die bestimmte Angst vor Sturzfluten. Der orangene Block, der auf dem Holztisch neben mir liegt, und die Aufschrift trägt: "LIFE - TYPEWRITING PAPER"
Ich habe Löcher in diese Seite getippt. Wenn ich sie gleich aus der Walze ziehe und gegen die Vorhänge halte, wird durch diese Löcher wohl das Licht eindringen. Ganz so wie die Worte, die jetzt behäbig aus dem Schweigen erscheinen. Doch oh, diese grünen Tasten, so weich so wunderbar, und kalt. Absatz nach Absatz vermögen es die Typen dir das schwache Pochen zurück in die tauben Venen zu pressen und du spürst wieder die Verbindungen über die Jahrzehnte, die Treue deiner Laster, und letztlich - der Ausgang des Labyrinths. (bestimmt)
Sieben abgepackte Herzen (schlagend)
verschmolzene Trophäen, auch die stehenden Haare deiner Politik der Wahrheit, geschneidert auf einer Endstufe im Jahr 1987, die Wasseraugen im Wind, niemals wieder, schwörtest du
Der Prozess der abgezählten Trauer, die ach so nassgeweinten Flammen - wider die Folgsamkeit deines abgebundenen Herzens - kannst weder hier, kannst noch dort, die marmorierten Handrücken der Messingdynastien und das Ackerland der weitenverdrehten Erinnerung - kannst weder geben, kannst noch annehmen, was in deiner Weise vertraut bleibt - nicht sterben (Wappenspruch), wächst aufs Meer hinaus, und überhaupt getrocknetes Meer mit faltigen Bänken, süßer Bruder Untergang - verschmolzene Trophäen, auch die stehenden Haare deiner Politik der Wahrheit, geschneidert auf einer Endstufe im Jahr 1987, die Wasseraugen im Wind, niemals wieder, schwörtest du - zur Schleife gebundene Schwanenhälse, Tintenhände massieren Tagebuchrücken an der roten Seite deiner Kammerwände - Blut zieht auf, dicker, warmer Regen aus Kanülen, Adern wie morsche Zweige, darin flüssige Bilder aus Tränenharz - wenn Farben sich trennen, bleibt dein Blick am Himmel oder klatschst du in die Nacht? Führst die Interviews mit halb niedergeschlagenen Augen? Kochst immer noch mit Entsetzen? Zeichnest deinen Schiffsfriedhof mit Drahtseil in die Salzluft? Was bleibt von deinem prachtvollen Ozean? Darfst Sprünge in der Taucherglocke redlich mit Zucker abdichten? Endlich bleibt die Aufstellung: eine halbe Sichel aus Kupfer, ein Turm aus Elfenbein in der Brandung aus Scheiße, sieben abgepackte Herzen (schlagend), ein schwarzer Leinenanzug aus gelbem Kinderhaar, alle Gedichte in der linken Armbeuge, einige in der rechten, den Splitter Richtung Meer, die Zehen in den glatten Kristallen, ein Chor (der nicht erscheint, und wenn - zu spät), getippte Seiten an der Oberfläche, drei geschlossene Bibliotheken in Strandnähe, ein Berg Blumen ohne Blüten, ein Kardiologe (Neruda zitierend) und eine Kette aus einundzwanzig Papiertütenmenschen ohne Gesicht, die dich endlich unter Wasser geleitet. Dicker, warmer Regen über den Hügeln (rot). Got it?
Welche farbe hat die wüste nachts?
Die Stufen zur Bühne sind aus altem Holz und erinnern mich an die roten Planken der Pilar, dem kleinen Fischerboot Hemingways auf Kuba, von dem ein Farbfoto über dem Schreibtisch meiner ersten Studentenwohnung hing.
3. April 2022, New York, Morgen
Die letzten drei Monate waren zu großen Teilen ein Untertauchen, eher leises Mitatmen im Schatten. Mein Körper nahm sich einige weiche Wochen. Im vergangenen Jahr gab es Veränderungen. Letztlich Müdigkeit. Manchmal saß ich an einem kleinen Holzschreibtisch in meiner Kölner Wohnung und versuchte meine Anwesenheit zu spüren. Doch oft fühlte ich mich nur den Räumen der Filme und Bücher zugehörig, die meine Bibliothek sind, der Gedankenort, der mir Heimat bedeutet. Mein Leben ist und wird ab sofort nicht mehr an Orte gebunden sein. Einen Großteil meiner Dinge habe ich hergegeben oder eingelagert. Ich binde mich an den Weg.
Kapitelweiten | 29. März 2022, Über dem atlantischen Ozean
Bei manchen Büchern
muss es zur Arbeit
des Lesens gehören
sie kapitelweit durch
die Straßen zu tragen
ihr Gewicht in Worte
schmerzhaft aufzuwiegen
sie sollten dauernd lasten
auf den Schultern sollten
den Unterschied lehren
zwischen Last und Hindernis
man sollte den Weg
der Iris über die Zeilen
in Schritten abwandern
die Absätze begehen und
jede Seite mit eitlem
Sprung verlassen.
29. März 2022, Notate aus “Mörderische Huren” von Roberto Bolaño
Im Flugzeug von Frankfurt zum JFK habe ich fast die komplette Kurzgeschichtensammlung “Mörderische Huren” von Bolaño gelesen. Eine kleine Reise in meine eigene Vergangenheit. Bolaño erzeugt mit wenigen Absätzen immer wieder das gleiche Gefühl bei mir, das ich so an seinen Büchern geliebt habe. Einige Abschnitte habe ich mir herausgeschrieben und eine kleine Auswahl davon will ich hier mit Euch teilen:
— Welche Farbe hat die Wüste nachts?, hatte ich mich vor Tagen im Motel gefragt. Es war eine rhetorische und dumme Frage, in die ich meine Zukunft mit einschloss, oder vielleicht nicht meine Zukunft, sondern meine Fähigkeit, den Schmerz zu ertragen, den ich empfand. (S. 28)
— Eines Morgens beim Frühstück fragte mich die Direktorin nach der Farbe meiner Augen. Sie sind so, weil ich wenig schlafe, sagte ich. (S. 27)
— Dann trat ich ans Fenster. Auf dem Parkplatz des Motels stand noch immer ihr Wagen. Ich öffnete die Tür und ein Windstoß aus der Wüste traf mich voll im Gesicht. Das Auto war leer. Ein Stück weiter weg, an der Straße, sah ich die Direktorin mit ein wenig erhobenen Armen, als spräche sie mit der Luft oder als rezitiere sie oder als wäre sie wieder ein kleines Mädchen, das Statue spielte. (S. 34)
— Er liest die surrealistischen Dichter und versteht kein Wort. Ein friedlicher, einsamer Mann an der Schwelle des Todes. Bilder, Wunden. Das ist alles, was er sieht. Und tatsächlich verlieren sich die Bilder nach und nach wie die untergehende Sonne, und nur die Wunden bleiben übrig. (S. 48)
— Brion Gysin war der Freund von Burroughs, der ihn auf die Idee der Cut-Ups brachte. (S. 78)
— Unausgezogen, einen Roman lesend, als wäre er in der Sprache eines fremden Planeten verfasst, schläft B ein. (S. 90)
— Das Band der Freundschaft entspann sich wie die Pest. (S. 97)
— Die unmögliche Landschaft und der unmögliche Körper. (S. 103)
— Im Rahmen des Möglichen bin ich ein normaler Mensch. (S. 107)
— …ich steuere das Motorrad mit sicherer Hand und drehe das Gas voll auf, die Gran Avenida ist um diese Zeit fast menschenleer, außer den Leuten, die aus dem Stadion kommen, und du hinter mir umfasst meine Taille. Ich spüre deinen Körper am Rücken, der sich anschmiegt wie eine Molluske am Fels, die Luft der Avenida ist um diese Zeit wirklich so kalt und geballt wie die Wellen, die auf die Molluske einstürmen, du schmiegst dich an mich, Max, mit der Selbstverständlichkeit dessen, der ahnt, dass das Meer nicht nur ein feindliches Element ist, sondern ein Zeittunnel, du umschlingst meine Taille wie zuvor das T-Shirt deinen Hals, aber die Conga tanzt jetzt die Luft, die wie ein Sturzbach in das von der Straße gebildete, gestrichelte Rohr einschießt, und du lachst oder sagst etwas, vielleicht hast du unter dem Mantel der Bäume, der die dahinziehenden Passanten beschirmt, irgendwelche Freunde entdeckt, vielleicht beleidigst du nur irgend welche Unbekannten, ach, Max, du sagst nicht tschüss, nicht hallo, nicht bis bald, du rufst Parolen, die älter sind als das Blut, aber sicher nicht älter als der Fels, an den du dich klammerst, glücklich, die Wellen zu spüren, die unterseeischen Strömungen der Nacht, und das sichere Gefühl, nicht von ihnen fortgerissen zu werden. (S. 116)
Blutbühne | 1. April 2022, Morgen
Dieser Tage entfallen mir die Träume schon beim Öffnen der Augen. Einen der wenigen, die geblieben sind, träumte ich gestern in meinem New Yorker Hotelzimmer: endlose Gänge in den Katakomben eines Theaters, rechts und links streifen mich halbgeschminkte Menschen in Unterwäsche oder schweren Stoffen. Alle sind mit sich beschäftigt, ich bin mit allen beschäftigt, sehe mich nur kurz in einem der Glühbirnenspiegel, untersetzt, eine braune Hose, Unterhemd, barfuss. Die schwach beleuchteten Gänge führen abwärts und gabeln sich, kreuzen sich, verlieren sich, enden in verschlossenen grünen Türen, so dass ich oft umkehren und neue Abzweigungen wählen muss. Die Menschen, die mir entgegenkommen, tun dies seltener, je tiefer ich mich in die Theatertunnel verlaufe.
An den Wänden hängen Fotos von alten Aufführungen, doch die Gesichter der Schauspieler wurden mit Bleistift überzeichnet, nur ihre Körper leuchten im Fresnellicht. Mit der Tiefe kommt die Stille und etwas später, leise und drohend, das Murmeln der Menschen im Zuschauerraum. Ich erreiche den Bühnenaufgang. Der Vorhang ist aus blauem Samt und redlich verschlossen. Das Rauschen auf den Rängen verstummt. Ich bin allein. Die Schauspieler, denen ich auf den Gängen begegnet bin, bleiben abwesend. Die Stufen zur Bühne sind aus altem Holz und erinnern mich an die roten Planken der Pilar, dem kleinen Fischerboot Hemingways auf Kuba, von dem ein Farbfoto über dem Schreibtisch meiner ersten Studentenwohnung hing.
Nach einiger Zeit wird mir bewusst, dass ich es bin, den man auf der Bühne erwartet. Ich steige die Holzstufen hinauf und schreite den Samtvorhang entlang, berühre mit der linken Hand den Stoff und halte an einer grünen Markierung, die jemand auf die Bühnenbretter geklebt hat. Ich stehe mit dem Gesicht in Richtung Zuschauer, die vielleicht hinter dem Vorhang warten. Ein Blick nach oben beweist mir, dass das Theater keine Decke hat, der Vorhang scheint bis in den Himmel zu reichen, auch ein Blick nach rechts und nach links offenbart die Endlosigkeit des blauen Stoffes. Alle Erwartung der Dinge hinter dem Vorhang verschwimmt zur Lethargie. Der Vorhang öffnet sich nicht. Ich versuche mit leisen Rufen jemanden hinter der Bühne zum Öffnen des Vorhangs zu gewinnen. Niemand antwortet. Die Zeit verrinnt und das Publikum bleibt stumm. Das Warten dehnt sich aus, breitet sich über meine Nacht aus und der Vorhang bleibt verschlossen. Er öffnet sich nicht. Dann wache ich auf.
Die Jahre der erhabenen Melancholie
Die Atmosphäre faltete sich an diesem Tag zu einem dämmrigen Vakuum und ich allein glättete seine Kanten. Es hatte sich ein Raum eröffnet, in dem ich sein wollte. In diesem Augenblick begann für mich vielleicht das, was ich im Rückblick meine „Jahre der erhabenen Melancholie“ nennen könnte.
Die unbeschwerten Jahre meiner Melancholie rochen nach Pisse und schwarzem Gold. So nannten die Bewohner der Nordseeinsel, auf der ich als Kind einmal für ein Jahr gelebt habe, den Schlick, der in meiner kindlichen Vorstellung fähig war, alles und jeden vollständig in sich aufzunehmen und zu verschlucken. Als ich einige Zeit später auf eine Nachbarinsel dieses meines Kindheitsortes zurückkehrte, stand ich mit nackten Füßen am verregneten Strand und blickte durch den Nebel über das Meer auf die entfernten Ufer meiner Vergangenheit. Zwischen mir und diesem Ort lagen etwa 2 Kilometer und 5 Jahre, in denen meine Haare ihre Farbe von strohblond zu braun gewechselt hatten. Jetzt war ich dort mit meiner Grundschulklasse. Wir hatten den ganzen Tag am Strand auf Sand gebaut, als eine der mitgereisten Lehrerinnen sich mir plötzlich von der Seite näherte. „Du hast dort mal gewohnt, oder?“, fragte sie. “Ja”, antwortete ich, “ist schon ein bisschen her”. „Das muss eine schöne Erinnerung für dich sein!“ Sie legte mir die Hand auf die Schulter, streifte mir die Kapuze meiner Regenjacke über meinen Kopf und ging zurück zu den anderen Kindern. Ich war neun Jahre alt. Und vielleicht begann alles dort, an diesem Strand, im Regen unter einem salzigen Himmel. Meine Erinnerungen an die unbeschwerten Kindheitstage auf dieser Insel, die man nun nur noch im Nebel erahnen konnte, legten sich durch die Worte meiner Lehrerin wie eine herausgerissene Seite meines Tagebuchs um meine Schultern. Meine Innenwelt wurde mit einem warmen, weichen Schmerz übergossen, der neben unlauterem Stolz auch die wilde Vergeblichkeit der vergangenen Zeit in sich trug. Anhaltend und ungehalten aufgestellte Haare bevölkerten meine gepunktete Haut, als flüstere jemand ganz nah an meinem Ohr dunkle Mantras des Konservierens in meine Welt, während meine nackten Füße von schwarzem, feuchtem Sand umspült wurden. Herztöne, die streichenden Wellen, rauschendes Blut, Suchtbeschleunigung durch den ersten Hit vom Meeresboden. Ich konnte plötzlich meine Füße nicht mehr aus dem Sand heben. Wehmutgischt auf meinen Nackenhaaren, es tat so weh, so gut, so scheußlich gut. Die aufgewellten Bilder begannen zu stranden, ich musste sie nur aufheben, nein, mich hineinstürzen in all das Unwiederbringliche. Der Regen wurde stärker, die anderen Kinder begannen, sich in Strandkörben zu verstecken und ich zog die Kapuze zurück in den Nacken, ließ den Nebel in meine Augen, ließ den Regen in meinen Kopf, ich war süchtig, süchtig nach Trübnis, nach sinnlosem, selbstbeschworenem Elend. Doch das war mir dort noch nicht bewusst. Damals war es nur das wohlige innere Brummen im Brustkorb, das man verspürt, wenn man bestimmte Menschen im Fernseher sprechen hört oder sich wirklich einmal einer Sünde ausliefert. Die Atmosphäre faltete sich an diesem Tag zu einem dämmrigen Vakuum und ich allein glättete seine Kanten. Es hatte sich ein Raum eröffnet, in dem ich sein wollte. In diesem Augenblick begann für mich vielleicht das, was man im Rückblick meine Jahre der erhabenen Melancholie nennen könnte. Erhaben, unschuldig.
Meine Füße verkrampften im Sand, ich konnte mich nicht herausnehmen aus diesem Gefühl. Eine Stunde verging, zwei. Die anderen Kinder waren mit den Lehrern wieder zur Herberge gelaufen. Doch ich befürchtete, meine Augen niemals von der entfernten Insel lösen zu können, so lange das Meer immer wieder neue Wellen auf mich warf. Das Rauschen würde nie aufhören und ich würde es mir niemals verzeihen können, auch nur einen dieser Bilderbrüche zu versäumen. Die Dämmerung zeichnete sich ab und die ersten Lichter leuchteten im Hafen auf. Der Strand war immer noch voll mit Wanderern, Flaneuren und Kurgästen. Schon eine Stunde zuvor hatte ich den Drang gespürt, bald pinkeln zu müssen, nun war der Drang zur Not geworden, doch meine damals schon ausgeprägte Scham verbot es mir, mich einfach am Strand oder in den Dünen zu erleichtern, wo mich jemand hätte sehen können. Ich wollte mich immer noch nicht von diesen neu entdeckten Gefühlen losreißen, doch irgendwann musste ich vor meinem Körper kapitulieren und versuchte, möglichst schnell und gleichzeitig unauffällig zurück zur Herberge zu laufen. Das alte, heruntergekommene Haus war auf einem kleinen Hügel gelegen und ein schmaler gepflasterter Weg führte von den Dünen hinauf zum Eingang. Es gibt das Haus heute noch und es heißt Sturmblick.
Ich verkrampfte meinen Körper und versuchte, mit aller Macht diesen Eingang zu erreichen, doch mein Körper versagte mir. Auf dem Weg standen überall Mitschüler, lehnten an den Holzgeländern und redeten und lachten und schrien. Zwanzig Meter vor dem Eingang hielt ich es nicht mehr aus. Ich lehnte mich an ein Geländer, in Sichtweite der anderen Kinder und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Die Pisse tränkte meine Unterhose und lief an meinen Innenschenkeln herab, warm, dann schnell eiskalt, irgendwann lief es aus meiner Trainingshose in und über meine Schuhe und es bildete sich ein kleines Rinnsal, das den Weg hinablief. Ich betete, dass die anderen jetzt nicht den Hang hinaufkämen. Irgendwann lief ich mit eingenässten Hosen um das Gebäude und schlich mich in die Waschküche. Meine Sneaker schmatzten bei jedem Schritt vor Pisse und Sand. Dort zog ich mich aus und wusch in einem großen Industriebecken mit einem Stück Kernseife meine Hosen und Schuhe. Ich versuchte, keine Geräusche zu machen beim Auswringen und fand in einer kleinen Kammer, in der sie das Waschmittel und die Ersatzbettwäsche gelagert hatten, eine kleine Heizung, über die ich die Hosen legen konnte. Ich drehte sie voll auf und nahm ein Handtuch aus dem Regal, das ich davor platzierte, um mit meinem nackten Arsch nicht auf den kalten blauen Fliesen sitzen zu müssen. Die Heizung wärmte meinen Rücken. Ich hatte das Licht ausgemacht, um nach außen unsichtbar zu bleiben, saß für eine Stunde mit einem Lächeln in der pechschwarzen Abstellkammer der Jugendherberge und hing meinen trüben Träumereien nach. Es roch noch immer nach Pisse. Die Melancholie meiner Kindheit roch nach Pisse und Schlick.
Im vergangenen Jahr sah ich in einem Berliner Kino Pedro Almodóvars Film „Leid und Herrlichkeit“ darin gibt es eine Stelle, in der die Hauptfigur über das Kino seiner Kindheit schreibt. Bei dieser Stelle habe ich mich zu ersten Mal seit Jahrzehnten an diesen Moment am Strand meiner eigenen Kindheit zurückerinnern müssen und den obenstehenden Text abends an der Hotelbar in mein Notizbuch geschrieben. Die Stelle im Film ging so:
"Meine Vorstellung von Kino war mal mit dem lauen Wind der Sommernächte verbunden. Kino gab es nur im Sommer. Die Filme wurden auf eine riesige Mauer projiziert, die man weiß getüncht hatte. Besonders gut erinnere ich mich an Filme, in denen Wasser vorkam, Wasserfälle, Meeresstrände, der Grund des Meeres, Flüsse oder Quellen. Nur weil wir das Rauschen des Wassers hörten, hatten wir Kinder einen unglaublichen Drang zu pinkeln. Das erledigten wir an Ort und Stelle, links und rechts von der Leinwand. Im Kino meiner Kindheit roch es immer nach Pisse und nach Jasmin und nach Sommerwind."
- Pedro Almodóvar, Leid und Herrlichkeit
Gelbtrauernacht
Vor einem Jahr fand ich eine Ausgabe mit Braschs Gedichten in einer Berliner Buchhandlung. Ich las den großen Band in zwei Nächten und seitdem lässt mich dieser Mann nicht mehr wirklich los.
Gestern bei der Thalbach im Babylon. Die Letzten, die den Saal betraten, bevor die Türen hinter uns schlossen und plötzlich diese Stimme. Katharina direkt neben uns zwischen den grünen Vorhängen. Das Gesicht hinter den großen Brillenrändern, die dünnen grauen Haare und ihre weichen Hände, die den Stapel Braschseiten umschlossen, aus denen sie später lesen würde. "Du winkst, wenn ich hoch soll, wa?"
Vor einem Jahr fand ich eine Ausgabe mit Braschs Gedichten in einer Berliner Buchhandlung. Ich las den großen Band in zwei Nächten und seitdem lässt mich dieser Mann nicht mehr wirklich los, was auch an Filmen und Veranstaltungen zu seinem zwanzigsten Todestag liegt. Während der ersten Stunde des Abends versunken im Schatten neben der Bühne, dazu die Trompeten der bolschewistischen Kapelle schwarz-rot. Bella Ciao der blausamtenen Kinosessel, Fotos von Brasch auf einem Projektor, meterhoch, schwarz-weiß, seine großen Wasseraugen. Ein Abend für Thomas Brasch, ein Abend ohne Thomas Brasch. Dann die Lesung von Thalbach, die in den Siebzigern mit Brasch nach Westberlin zog, nachdem es beiden unmöglich geworden war künstlerisch tätig zu bleiben in ihrer Heimat. Sie liest Lieblingstexte, Apoll, der Marsyas Mythos, die Häutung, das Blut unter dem Pflaster. Dann Beschreibung der Wohnung in der heutigen Torstr. 68, die Manuskriptseiten von Lovely Rita (damals noch Katharina) and den Wänden, schwarz und rot getippt, ihr gespielte Echauffiertheit, dass das ja alle lesen konnten über sie in seiner Wohnung und auch Argwohn, dass es nun doch einen anderen Titel trägt. Sie liest es vor als "Lovely Katharina", wirkt gelöst, erzählt von viel Liebe und viel Streit. Liest letztlich noch herauskopierte Seiten aus einem Notizbuch ihrer Tochter Anna, eine Geschichte über Marilyn, die Brasch für seine Stieftochter geschrieben hatte. Marilyn, die Wehmut, die Gelbtrauer. Dritte Stelle, an der ich weine.
Danach Braschs Film "Engel aus Eisen". Provisorische Leinwand, Gladows Schauspieler seltsam nah, alle Gesichter des Films trotzdem seltsam entrückt, Risse auf den Wangen und in der Erzählzeit. Der Zerfall, der Riss, das Abebben, das Verzetteln, sich nicht verlieren, sich nur plötzlich nicht mehr wiederfinden. Die Angst vor den Spiegeln. Das Loslassen im Voranschreiten, ein Bedürfnis nach Heil. Das wunde Schaben an der Wahrnehmung. Wege, die sich trennen und wieder zueinander führen, sich bedingen, sich voranwerfen und sich wieder und wieder abhanden kommen. Nach der Vorstellung trunken durch die Straßen, stehen vor seiner alten Wohnung, die Lichter sind aus und wir sprechen über Koordinatensysteme und Unendlichkeit. Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.
Die Hermes Baby Rooftop Bar
Einmal sitzt Thomas Kling mit seinem Wespennest auf dem Kopf an meinem Küchentisch und drückt seine Zunge in warmen Raki. Das Nest ist feucht und verharzt, er nimmt es nicht ab, seit er ins Land gekommen ist und ich kann ihn deswegen nicht ansehen.
Nach langer Zeit ein Traum. Ich lebe in einem Ausland. Die Sonne scheint oft und die Menschen auf den Straßen tragen Gewänder. In meinem Zimmer auf dem Dach eines über einen Fluß gebauten Apartmenthauses gibt es keine Heizung, aber fließendes Wasser. Ich lebe dort mit dem einzigen Ziel, etwas zu schreiben, das mir beweist, nicht völlig wertlos zu sein. Im Hause gibt noch andere Künstler, Musiker und Schriftsteller vorwiegend. Patti Smith, Thomas Kling, Lucia Berlin, mehr. Statt zu schreiben, empfange ich ausschließlich die anderen in meiner Wohnung und serviere ihnen starke Getränke. Patti kommt mit Jean Genet, um ihm meine Wohnung zu zeigen, sie war tags zuvor an einem Royal Hawaiian festgeklebt und hatte gedroht, jeden Tag wiederzukommen. Sie reden nicht und nippen andächtig an ihrem Drink. Jean steckt ab und zu seinen Zeigefinger in die gelbe Flüssigkeit und zeichnet damit ein feuchtes Kreuz auf Pattis Stirn. Einmal sitzt Thomas Kling mit seinem Wespennest auf dem Kopf an meinem Küchentisch und drückt seine Zunge in warmen Raki. Das Nest ist feucht und verharzt, er nimmt es nicht ab, seit er ins Land gekommen ist und ich kann ihn deswegen nicht ansehen. Berlin trinkt Bourbon und arbeitet die Seiten durch, die sie am Morgen geschrieben hat. Sie liegt auf meinem Bett, die Schulter an der Wand, die Beine unter ihrem Rock übereinander geschlagen, so dass ihre Knie aussehen wie ein mäandernder Rochen. Der Traum ist eine Schleife. An jedem Morgen setze ich mich an die Hermes Baby, die ich mit ins Land geschleppt habe, und warte auf die Bilder. Bis es klopft.
Im Auftrag der Kosmokraten
Fünftausend Kilometer, die Kamera auf dem Sitz neben mir, das Atlan-Groschenheft auf dem Amaturenbrett und die Sterntagebücher von Lem aus den Lautsprechern. War wieder allein in diesem Sommer, zurückgeworfen auf den Klamottenhaufen meiner Talsohlenwanderei, auf die Nachwehen der Verzettelungen einiger Frühlingsmonate.
Ich habe es verpasst. Der Sommer ist vorbei. Und ich habe den Moment verpasst, an dem es sich wie Sommer anfühlte. Eine Sekunde im Sonnenlicht auf dem Balkon und in der nächsten schon vom Schnappschuss in die Langzeitbelichtung gelöst, die Bäume, das Licht der Laternen, Flecken zu Linien, die angestrahlten Fratzen vor meinem Beifahrerfenster und dann der Sommerregen wie ein letzter Vorhang an den östlichen Grenzen unserer Welt. Fünftausend Kilometer, die Kamera auf dem Sitz neben mir, das Atlan-Groschenheft auf dem Amaturenbrett und die Sterntagebücher von Lem aus den Lautsprechern. War wieder allein in diesem Sommer, zurückgeworfen auf den Klamottenhaufen meiner Talsohlenwanderei, auf die Nachwehen der Verzettelungen einiger Frühlingsmonate. Gleichzeitig verbrecherische Zuversicht, dieses mühsam erschaffene Leben, das mir doch entspricht, mit all seiner schlaflosen Fragilität, grazil und auf Sand gebaut.
Es gibt jetzt wieder Tage, an denen ich verschwinde. Nur verschwinde. Ich schreibe niemandem. Niemand schreibt mir. Bis sogar das dauerhafte, unablässige Selbstgespräch versiegt, das mich durch den Kosmos rührt. Bleibe zurück mit diesem Körper, dem Regen auf meinem Gesicht, keine Erinnerungen, kein Ausblick, gleichsam Abschluss und Beginn von etwas, das ich wohl bin, nie war und vielleicht niemals sein werde.
Dann von Berlin nach Polen, fast in der Nacht, die Autobahn weich und grau, das Meer voller Möwen und die Brandung in meinen Stiefeln und später die Markthalle von Breslau und das Netz Orangen und die polnischen Briefmarken für die elenden Hotelbriefe, die ich niemals einwarf, in die Berge nach Tschechien und das letzte Farbfoto in einem Hinterhof, ein Tisch, ein Messer mit einem Holzgriff, eine Schale Pflaumenkerne und schimmelndes Fruchtfleisch, ein Hund, dem ein Auge fehlt, all das auf dem letzten Farbfoto, doch weiß ich es nicht, habe ich doch noch keines der Bilder angeschaut, seitdem ich wieder hier sitze, an diesem Tisch, jeden Abend, jeden Morgen, der peruanische Pfefferbaum vor dem Fenster und seine Tentakeln im Herbstwind wie ausgeworfene Angeln.
Meine Kamera, dieser Röntgenapparat der Vergänglichkeit. Das Alte, Verwelkte, das ewig Gestrige, das Vergessene und das Versehrte zieht meinen Blick durch den Sucher. Auch auf dieser Reise, versteckt hinter Bauvorhaben, einem stolpernden Europa, blutleeren Gassen und Plakatwänden. Die bunten Panzerwagen der Phantasielosen, geleastes Rängegeschacher. Das Versehrte stirbt aus, wird renoviert und meistbietend verteilt. Der Blick aus den Hotelfenstern, die Neonreklamen und der Krebs in den Kneipen an der Rzeznicza, kostenloser Kaffee aus der Lobby und das Brummen der leuchtenden Hotelbuchstaben im Breslauer Nachthimmel. Dabei anhaltender Respekt vor dem Wahnsinn. Und sein Sog. Gerade beim Verfassen dieser Bekennerschreiben. Thomas Brasch vor mir, sein Spiegelbild, der graue Anzug ohne Hemd darunter, sich selbst im Spiegel filmend mit dem alten Camcorder, die wilden Lippenstiftmanifeste auf dem Glas. Die Krankenhausjournale der Ingeborg Bachmann, die niemals hätten veröffentlicht werden dürfen und die mir immer noch Angst machen in meiner Hand. Und jetzt? Die Wirklichkeit und ihre Gesichter, seltsam in Cellophan gehüllt. Irgendwann findet jemand unsere Erinnerungen in Plastiksäcken auf einem Dachboden und wird damit einfach nichts anfangen können.
Wroclaw. Vier Uhr in der Nacht. Ich beginne ein Gedicht auf dem Briefpapier des Hotels, das mit den Zeilen beginnt: "Nur die Wunde ist Leben, alle Narben sind Ohnmacht." Dann fällt mir nichts mehr ein. Ich lösche das Licht und schlafe ein, bei offenem Fenster. Morgen fahre ich weiter.
Aufzeichnungen aus dem Spätsommer 2021
Die Smith-Corona Galaxie
Er kann mich nicht sehen, weil jemand die Äpfel aus seinen Augenhöhlen geklaut hat und ich bin erleichtert, weil ich ihm ungestört dabei zuschauen kann wie er Wespenhülsen auf meinen Küchenboden spuckt.
Zum ersten Mal sah ich die Galaxie an einem Dienstag Nachmittag. Ich betrat meine Wohnung und verteilte die Überreste meiner Realität über die Haken und Schränke meines Flurs. Als ich mein Schlafzimmer betrat, beiläufig und barfüßig, bemerkte ich mit dem ersten Auge die Galaxie. Sie war über meinem Schreibtisch, direkt gegenüber meines Bettes und neben einem leeren Spiegel. Ich wandte den Blick ab und ging rüber zum Fenster, das zum Fluß vor meiner Wohnung rausgeht. Auf dem Platz mit dem Kino saß auf einer Bank ein schwarzhaariger Junge mit einem schwarzhaarigen Mädchen im Schneidersitz. Neben ihnen stand ein Motorroller und ihre Helme hingen rechts und links über den Lenker. Sie wölbten sich zueinander, hielten die Luft an und berührten sich nur mit ihren Lippen, die Hände im jeweils eigenen Schoß. Sie hatten sich bereits geküsst, als ich aus meiner Realität heimgelaufen und über den Platz mit dem Kino an ihnen vorbeigekommen war —— Dunkle Wolken zogen plötzlich über dem Platz auf und die Filmplakate an der Wand hinter den beiden leuchteten. Sie mussten schon vorher geleuchtet haben, doch man sah es erst jetzt in der Dämmerung glühen. Das Mädchen küsste weiter den schwarzhaarigen Jungen und die ersten Regentropfen landeten auf dem Boden und der Geruch von nassem Asphalt stieg hoch bis an mein Fenster im zweiten Stock und der Regen wurde stärker und die beiden schwarzhaarigen küssten sich mit ihren nassen schwarzen Haaren und berührten sich weiter nicht an den Händen. Als der Regen stärker wurde, schloß ich das Fenster, rollte die Fensterläden herunter und knipste die kleine Lampe auf meinem Nachttisch an. Ich schaute aus dem Augenwinkel in Richtung Schreibtisch. Die Galaxie war immer noch da. Sie bewegte sich nicht. Danach legte ich mich ins Bett und löschte das Licht. Im Gegensatz zu den Filmplakaten begann die Galaxie nicht in der Dunkelheit zu strahlen. Auch ohne Leuchten sah ich sie deutlich vor mir. Ihr schwarz war tiefer als das Milchschwarz dieser Sommernacht.
In der ersten Nacht der Galaxie träumte ich vom Hologram Adolfo Bioy Casares an meinem Küchentisch. Ich träumte, wie er vor mir sitzt und seine weißen Zähne in eine überreife Birne drückt. Aus den dunklen Löchern der angefaulten Frucht kriechen schmerzgelbe Wespen auf seinen Mund zu und mit jedem weiteren Bissen erwischt er auch eine von ihnen mit seinen grauen Zähnen und der Saft der Birne und der Saft der Wespen tropfen an seinem glattrasierten Kinn hinunter auf den gestärkten Hemdkragen unter seiner Weste. Er kann mich nicht sehen, weil jemand die Äpfel aus seinen Augenhöhlen geklaut hat und ich bin erleichtert, weil ich ihm ungestört dabei zuschauen kann wie er Wespenhülsen auf meinen Küchenboden spuckt.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war die Galaxie immer noch da. Ich hatte das Gefühl, sie sei über Nacht gewachsen, aber ich war mir nicht sicher. Ich musste an der Galaxie vorbeilaufen, um zu meiner Küche zu kommen. Zwischen Tür und Galaxie lagen vielleicht neunzig Zentimeter. Ich ließ das Morgenlicht ins Zimmer und lief dann an ihr vorbei, den Rücken an die Wand gedrückt, um den größtmöglichen Abstand zwischen mir und der Galaxie zu gewährleisten. Ich versuchte sie im Vorbeigehen genauer zu untersuchen. Von der Seite konnte man sie kaum erkennen, sie war nicht tiefer als eine Lage Zeitungspapier. Zwischen der Galaxie und dem Schreibtisch konnte ich nichts erkennen. Sie schwebte also in der Luft. Ich ging in meine Küche, kochte Kaffee und überlegte wie die Galaxie dort hingekommen sein konnte. Es musste am Dienstag passiert sein, während ich noch in meiner Realität festgehalten wurde. Ich legte mich mit meiner Tasse Kaffee zurück ins Bett, zog die Decke bis über den Bauchnabel und betrachtete die Galaxie noch genauer. Auf den ersten Blick sah sie aus wie ein schwarzes Loch in meinem Schlafzimmer, mit einem Durchmesser von vielleicht dreißig Zentimetern. Bei Tag war sie nicht so schwarz wie noch in der Nacht. Neben dem Schreibtisch entdeckte ich einen Koffer, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Er war blau und ich vermutete, dass die Galaxie darin hertransportiert worden war. Über dem Schreibtisch hatte ich ein paar Wochen zuvor ein kleines Regalbrett angebracht, auf dem sieben Bücher aufgereiht standen, die eine gewisse Bedeutung für mich hatten. Ich hatte sie sieben Jahre zuvor einem Trödelhändler namens Albrecht Engler in Düsseldorf abgekauft. Er kaufte Nachlässe auf und rief mich immer an, wenn Bücher dabei waren. Die Sieben, die auf meinem Regal standen, hatte ich aus einem Stapel Ananaskisten eines verstorbenen Englischlehrers gefischt, der in seinem Leben exakt dieselben Bücher gekauft und gelesen hatte, die ich in meinem Leben gelesen und gekauft hatte. Ich stand vor sieben Jahren vor sieben Ananaskisten mit meinem eigenen Nachlass. Jetzt schwebten die Bücher über der Galaxie und ich war unsicher, ob sie für immer verloren waren. Ich ging zurück in meine Realität und am Abend lief ich nicht direkt nach Hause sondern zu meinem Nachbarn Ray. Ich erzählte ihm nichts von der Galaxie. Er wärmte ein Süßholzcurry auf, während ich auf meinen Atlantismoment wartete.
In der zweiten Nacht der Galaxie träumte ich von Zahlen. Das schwarze Biest Aleister Crowley brauchte, trotz fiebriger Erkältung, 27 Tage und 12 3/4 Stunden, um „Diary of a Drug Fiend“ zu schreiben. Er schrieb genau 4321 Wörter pro Tag. Ray Bradbury musste wegen seiner kleinen Tochter jeden Tag seine Wohnung verlassen, um die fünfzig Tausend Wörter von Fahrenheit 451 zu schreiben. Er mietete im Keller der städtischen Universität einen Platz an einer Schreibmaschine für 10 Cent pro halbe Stunde, setzte sich mit einem Säckchen voll Kleingeld an die Tasten und beendete die erste Fassung innerhalb von 9 Tagen, sie kostete ihn neun Dollar und achtzig Cent an Schreibmaschinenmiete. Jimi Hendrix ließ sich 1967 im Landmark Motor Hotel 100 Dollar in kleine Münzen umtauschen, um die ganze Nacht auf dem elektrisch vibrierenden Bett seiner Honeymoon Sweet reiten zu können und den ganzen Flur auf einen Ritt in seinem Zimmer einladen zu können. Ich träumte vom zwanzigjährigen Hologram Roberto Bolaños im Jahr 2666 auf einem schwarzen Motorrad, eine Flasche Tequila für zwanzig Freunde in der Armbeuge und drei Notizbücher mit den Gedichten, die ihm nicht peinlich sind, in seinem verkohlten Rucksack.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war die Galaxie immer noch da. Dieses Mal war ich mir sicher, dass sie über Nacht größer geworden war. Mir fiel auf, dass die Galaxie keinen Rand hatte, sie hörte einfach irgendwann auf. Die Luft um die Galaxie sah normal aus. Ich beschloss, mutiger zu sein und setzte mich an die Bettkante. Die Galaxie über meinem Schreibtisch schwebte jetzt etwa einen Meter vor meinem Gesicht. Sie strahlte weder Wärme noch Kälte aus. Sie bewegte sich nicht. Sie machte kein Geräusch. Ich betrachtete ihren Rand, den es nicht gab. Der blaue Koffer lag jetzt geöffnet vor meinen Füßen. Auf einem Metallschild, das in der Mitte des mit bunter Seide gefütterten Koffers angeklemmt war, las ich die Worte „Smith-Corona“. Ich wusste nicht, ob das alles so in Ordnung war. Es war die erste Galaxie, die ich in meinem Leben gesehen hatte. Ich ging noch näher heran und nahm ein Blatt Papier von meinem Schreibtisch und ließ es unter die Galaxie gleiten. Das Blatt landete einfach auf dem Schreibtisch. Es war kein Trick. Die Galaxie schwebte wirklich etwa zwanzig Zentimeter über der Schreibtischoberfläche. Ich führte meine rechte Hand unter die Galaxie und bewegte sie ein paar mal von der einen zur anderen Seite. Es passierte nichts. Auch in ihrer Nähe spürte ich weder Wärme noch Kälte. Ich bewegte mich um den Schreibtisch herum und ließ meinen Arm hinter die Galaxie gleiten. Auch dort war nichts zu spüren. Man konnte sie auch nicht riechen, obwohl ich mir einbildete, einen leicht silbrigen Geschmack auf der Zunge zu haben, während ich so nah an der Galaxie stand. Ich beschloß, meinem Nachbarn Ray von der Galaxie zu erzählen, wenn ich am Abend aus meiner Realität heimkommen würde.
In der dritten Nacht der Galaxie träumte ich von einem gesunden Franz Kafka, der mich wie in einer Fernsehshow durch seine letzte Wohnung in Steglitz führt, einen Tag bevor er stirbt. Am Küchentisch sitzt Dora Diamant, barbusig und Zeitung lesend, ihre schwarzen Locken mit einem Band aus Apfelschale zusammengebunden, das sie in einem Stück von einem faulen Apfel geschält hat. Franz könne es sich im Moment nicht leisten, ihr ein echtes Haarband zu kaufen. Als wir an ihr vorbeigehen, legt sie die Zeitung kurz auf den Tisch und hebt ihre Hand zum Gruß. Sie kann nicht lächeln. Sonst besteht die Wohnung nur aus Kafkas Bett, in dem er die Tage und die Nächte verbringt. Er zeigt mir seine Sammlung pornografischer Magazine - er habe sie abonniert - und zählt mir seine drei Lieblingsbordelle in Prag auf. Er favorisiere Analsex, Oralsex komme an zweiter Stelle und an dritter Stelle Masturbation. „Ich masturbiere jeden Abend vor dem Schreiben!“ sagt er und legt sich in sein Bett, um zu sterben.
Ray hatte vorgeschlagen, sich die Galaxie einmal anzusehen, falls sie am nächsten Morgen noch da wäre. Es war ein Samstag und er musste nicht in seine Realität und ich musste nicht in meine Realität und er fand, das seien gute Voraussetzungen, um sich um die Galaxie zu kümmern. Auch wenn er selbst noch keine Erfahrung mit Galaxien gemacht habe, so sei er doch so etwas wie ein Experte auf dem Gebiet und wenn man sich um eine Galaxie kümmern müsse, sollte man so viel Zeit wie möglich zur Verfügung haben. Worin genau seine Expertise bestand, wusste ich nicht. In der Biografie auf seinem Weblog bezeichnete er sich immer als „Kassierer im Pfandhaus des Universums“. Was er wirklich machte, wusste ich nicht. Die Galaxie war immer noch da und deshalb kam er am Samstag um neun Uhr Morgens zu meiner Wohnungstür und klopfte an. Er bat mich, ihm genau zu schildern, was ich gemacht hatte, bevor ich die die Galaxie zum ersten Mal gesehen hatte und er tat es mir nach und hängte seinen Mantel an den Haken, zog seine Schuhe aus und legte sie in den Schrank in meinem Flur und betrat, barfüßig wie ich, nach mir das Schlafzimmer. Die Galaxie schwebte über dem Schreibtisch und war auf einen Durchmesser von 40 Zentimetern gewachsen. Wir setzten uns auf die Bettkante und betrachteten die Galaxie. Ich war mir nicht sicher, ob er sie auch sah. Ich hoffte es. Dann sagte er, dass das zu einem Problem werden könne. Er fragte mich, wie sehr die Galaxie gewachsen war, seit ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Ich erzählte ihm, dass es vielleicht 10 Zentimeter waren. „Das habe ich befürchtet“, sagte er. Ich hätte keine Chance, gab er mir zu verstehen. Die Galaxie breite sich aus, das sei die Natur des Universums. Und der Ausbreitungsgrad meiner Galaxie sei als verheerend einzustufen. Ich müsse mich damit abfinden. Die Galaxie sei unaufhaltsam. Man könne lediglich versuchen, den Wachstumsprozess zu entschleunigen. „Wie soll das gehen?“, fragte ich Ray. „Nichts entsteht, ohne das etwas verbraucht wird“, sagte Ray. „Die Galaxie kann nur wachsen, wenn sie die Welt um sich herum in sich aufnimmt. Du hast seit Dienstag bereits einen Durchmesser von 10 Zentimetern deiner Wohnung an die Galaxie verloren. Wir können sie vielleicht für einen Moment täuschen, bis uns etwas Besseres einfällt!“ Er nahm ein dunkelblaues Bettlaken aus meinem Schrank und gab mir zwei Zipfel davon in die Hand, spannte das Laken zwischen uns und zählte runter. „3, 2, 1,“ und wir warfen das Laken über die Galaxie, die darunter verschwand. Das Laken schwebte nun über dem Schreibtisch. Es hatte kein Geräusch gemacht, als das Laken die Galaxie berührt hatte. „Du musst mir versprechen, die Galaxie unter dem Laken zu lassen und vor allen Dingen musst du mir versprechen, nicht in die Galaxie hineinzusehen!“ - Erst in diesem Moment war mir aufgefallen, dass ich die Galaxie bisher zwar von allen Seiten aus betrachtet, aber nie in ihre Mitte geschaut hatte. „Warum?“, fragte ich Ray. „Vertrau mir“, sagte Ray. Dann klopfte es an der Tür. Es war der Bruder unseres Nachbarn Richard, der unsere Hilfe brauchte. Wir gingen runter in den ersten Stock, wo Richard gelebt hatte, bevor er seinen Atlantismoment verpasst und sich in seinem Kellerraum mit einem Kabelbinder an einem Abwasserrohr erhängt hatte. Das war etwa einen Monat her. Es hatte fast zwei Wochen gedauert, bis jemand gekommen und ihn in seinem Keller gefunden hatte. Der Leichengeruch war nicht bis in die oberen Etagen vorgedrungen, uns ist nur irgendwann aufgefallen, dass das Obst in unseren Wohnungen schneller faulte und immer mehr Fliegen bei uns wohnten. Wir schleppten Richard’s Bücher und sein Bett aus dem Haus, mehr hatte er vor seinem Tod nicht mehr besessen. Richard’s Bruder wollte alles verbrennen. Im Kühlschrank fanden wir noch einige Tüten Capri-Sonne, jeder bekam zwei und wir standen auf Richard’s Balkon, starrten in den pinken Himmel vor seiner leeren Wohnung und tranken Capri-Sonne und erinnerten uns an seine Geschichten und die Bücher, die er irgendwann mal rausgebracht hatte und die dann irgendwann niemand mehr lesen wollte.
In der vierten Nacht der Galaxie träumte ich von Richard in einer Badewanne voller Zucker. Ich träumte, wie ich ihm erzähle, dass der Tod ein kleiner Mann mit Nelken auf dem Kopf sei und dass seine Bücher wieder gelesen werden und das seine Tochter bei der Beerdigung geweint habe und dass es eine gute Entscheidung gewesen sei, sich zu erhängen und nicht das Gewehr zu nehmen, dass er sich von seinem Bruder geliehen hatte und das sie einen Film über ihn machen würden und eine Parade in Aprilstadt und ich sagte ihm, dass die Leute nur gut über ihn sprachen seit er Tod war und dass er sein Glas mit Mayonnaise immer noch bei mir stehen habe und das Ray immer noch sein Süßholzcurry koche jede Woche, auch wenn er nicht mehr vorbeikommt um sich einen Teller abzuholen und ein Glas Calvados zu trinken und auf den Atlantismoment zu warten.
Am nächsten Tag schwebte das Laken immer noch über dem Schreibtisch. Wenn es nach Ray ging, war die Ausbreitung der Galaxie so oder so unausweichlich und ich beschloss, zum Protagonisten der Sache zu werden. Ich kochte mir einen Kaffee, zündete mir eine Zigarette an und setzte mich vor das schwebende Laken. Dann zog ich das Laken von der Galaxie und sah sie mir an. Sie war um fünf Zentimeter im Umfang gewachsen, seitdem wir sie mit dem Laken bedeckt hatten. Ich betrachtete den Rand der Galaxie, den es nicht gab und rauchte die Zigarette zur Hälfte und nahm einen Schluck von dem Kaffee, den ich mit dem Kaffeesatz des Vortags aufgebrüht hatte und löschte dann die Zigarette in der grauen, geschmacklosen Brühe und stellte den Becher auf den Fußboden. Ich fuhr mit meinem Blick den gesamten Rand, den es nicht gab, des tiefschwarzen Kreises ab und als mein Blick wieder an der rechten Kante der Galaxie angekommen war, wanderte ich mit den Augen weiter zur Mitte, bis ich den für mich mittigsten Punkt im Fokus hatte. Ich sah nichts. Das tiefe Schwarz, das nicht so tief war wie in der Nacht, war in der Mitte genauso schwarz wie am Rand, den es nicht gab. Ich ließ den Blick auf die Mitte gerichtet. Der bittere Geschmack des Kaffees mischte sich auf meiner Zunge mit diesem leicht silbrigen Geschmack. Ich schluckte und der Geschmack war eindeutig da, wie am zweiten Tag der Galaxie, als ich ihr zum ersten Mal nahe gekommen war. Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen und öffnete sie wieder. Ich blickte direkt in die Mitte der Galaxie und nach einigen Minuten meinte ich etwas erkennen zu können. In der Galaxie begann ein Prozess. Wie ein riesiger Milchozean schwappte die Materie in der Galaxie von einer rechten zu einer linken Küste. Es sah aus wie ein Polaroid, das unbelichtet aus der Kamera kommt und dann die Chemikalien aus der Tasche am Rand des Polaroids von unsichtbaren Händen ozeanblau über das schwarze Foto gedrückt werden. Es war wie bei dem Versuch unsere Galaxie von der Erde aus zu fotografieren, es kam auf die Belichtungszeit an. Je länger ich in die Mitte der Galaxie starrte, desto deutlicher konnte ich sie erkennen. Nun hatte sie auch einen Rand und an ihrem Rand erkannte ich Strände, an den Stränden des Milchozeans gab es Häuser aus Buchseiten, die mit karamellisiertem Wassermelonenzucker zusammengehalten wurden und das Wasser an den Stränden reflektierte den gelben Bleistifthimmel und die Galaxie war ein illustrierter Mann mit Händen die Städte waren und 723 Tättowierungen die zu Wäldern wuchsen und der junge Tod saß in einem Café am Strand und schoss Leuchtpatronen zum Farbbandfirmament, die die wahre Einsamkeit versprühten, die Einsamkeit, die auch unter Menschen nicht verschwindet. Meine Konzentration ließ langsam nach und ich bewegte meinen Blick wieder zum Rand der Galaxie, doch ich fand ihn nicht. Nach rechts hin erstreckte sich ein riesiges Bleistiftgebiet, das nicht endete und nach links hin hatten sie die Raffinerien für den Zucker gebaut und ich kreiste mit meinem Blick durch die Galaxie und sah zu wie mich die Galaxie zu ihrem Ende führte, während ich nicht mehr herauskam.
In der letzten Nacht der Galaxie träumte ich von Lucia Berlin und wie sie in der Küche Bourbon kippt und Geschichten tippt, nachdem sie ihre Kinder zu Bett gebracht hat und wie sie in einer kleinen Propellermaschine über die mexikanische Grenze fliegt, um ihren heroinsüchtigen Mann zum seinem nächsten Trip zu bringen, weil es eine gute Kurzgeschichte hergibt und die Grenze zu Mexiko aus der Luft wunderschön aussieht und ihre Kinder im Fußraum der Maschine gut schlafen können und ich träumte, dass sie ihren Mann abwirft und nach Kuba fliegt und Reinaldo Arenas mit ihrer Maschine abholt, bevor er in Vergessenheit geraten kann und sich in New York von Babybrei und Whiskey ernähren muss, während er all die Romane noch einmal schreibt, die Fidel Castro von ihm hat verbrennen lassen. Ich träumte von der verkohlten Truhe Fernando Pessoas. Ich träumte von Wolfgang Herrndorfs Revolver. Ich träumte von Marc Fischers Gitarre. Ich träumte von Ingeborg Bachmanns Traumtagebuch. Ich träumte vom Birnensaft auf Bioy Casares Hemdkragen. Ich träumte von Ray’s Curry. Ich träumte von Richard’s Einmachgläsern. Ich träumte von der alten Galaxie. Und ich träumte, wir wären alle nur Hologramme in Morels Erfindung auf dieser Insel am Rande des Bleistiftgebiets.
Zu Lebzeiten
“Selbst wenn wir wissen, dass ein nie zustande kommendes Werk schlecht sein wird, ein nie begonnenes ist noch schlechter! Ein zustande gekommenes Werk ist zumindest entstanden. Kein Meisterwerk vielleicht, aber es existiert, wenn auch kümmerlich wie die Pflanze meiner gebrechlichen Nachbarin.”
Ich werde es müde, mit Menschen über Online-Plattformen zu reden, Menschen, die darin den einzigen Wert ihrer Arbeit zu finden suchen. Paul Auster hat mal über das Schreiben gesagt (sinngemäß): Mit 20 ist jeder ein Schriftsteller, bei den Dreißigjährigen sind es schon sehr viele weniger, mit 40, 50 schreiben nur noch die, die nicht anders können. So werden auch die Fotografen ausdünnen, die nur für die Online-Welt Fotos machen. Die Leute mit 2K Followern sehnen sich die 5K herbei, die mit 5 die 10, 20 die 50, 50 die 100 und auf dem Weg fällt einem plötzlich auf, wie egal es ist und in welche Abhängigkeit man sich zu einer Plattform begeben hat, die in einem nichts sieht außer Werberelevanz. Was bleibt, sind die Begegnungen, die daraus entstanden sind.
Franz Kafka hat 1912 mit knapp 30 seinen ersten Kurzgeschichtenband „Betrachtung“ herausgebracht. Auflage: 800 Stück. Kurz vor seinem Tod kam der Band „Ein Landarzt“ heraus. Kafka war in Literaturkreisen nun schon bekannter, mehr als 10 Jahre nach der ersten Veröffentlichung. Auflage: 2000 Stück. Er hat über Jahre hunderte Briefe an seine Freundinnen Felice Bauer und später Milena Jesenská geschrieben, die zum Schönsten gehören, das jemals verfasst wurde. Empfänger: 1. Seine Tagebücher und Notizhefte sind noch heute mein ständiger Begleiter. Leser zu Lebzeiten: 0.
Kafka hörte nie auf zu schreiben. Arbeitete bei einer Versicherungsgesellschaft von morgens bis nachmittags, lief nach Hause, schlief eine Stunde, ging spazieren, aß etwas Käse und Nüsse zu Abend und wenn alle Geräusche im Hause verstummt waren, schrieb er von 10 Uhr bis 3 Uhr nachts oder länger in seine Hefte und rannte morgens wieder zu seiner Versicherung, sich selbst stets sein schärfster Kritiker. Alle Künstler sind eitel. Und der bloße Akt des Veröffentlichens ist dafür Beweis genug. Wir müssen uns glücklich schätzen, so einfach wie heute so viele Menschen erreichen zu können. Und trotzdem hat nichts davon Wert ohne die konstante, manchmal mühsame Arbeit am Werk. Denn wie oft ist das, was wir für uns fotografieren, für uns schreiben oder malen, im Rückblick weitaus bedeutender als das, was wir für andere erschaffen?
Jack Kerouac schrieb Roman um Roman, bevor er 1957 mit “On the Road” endlich einen Erfolg hatte. Da war er 35 und sah aus wie 45, weil er tatsächlich die meisten Geschichten aus seinen Roman selbst gelebt hat und danach scheuchten sie ihn durch alle Talk Shows, wo er jedem von der Schriftrolle berichten durfte, auf der er “On the Road” in wenigen Wochen zusammengetippt hatte. Die Geschichte trug zum Mythos bei und dass er zuvor unzählige Versuche, den Roman zu schreiben in den Sand gesetzt hatte, interessiert danach niemanden. Nach “On the Road” wurden endlich auch seine früheren Romane nach und nach an die Öffentlichkeit gebracht. Die Verkaufszahlen sanken jedoch stetig und er konnte nie wieder an den alten Erfolg anknüpfen. Trotzdem schrieb er weiter, bis er sich irgendwann zu Tode soff.
Öffentlichkeit ist ein wichtiges Element im Schaffensprozess. Peter Handke schrieb einmal in einem Brief an seinen Verleger Siegfried Unseld, nachdem eines seiner Theaterstücke großen Anklang fand: “Man hat doch zu viel von sich auf seine Gebilde übertragen und lebt erst richtig auf, wenn diese in den Leuten aufleben.” Trotzdem kommt das Werk immer vor der Rezeption. Und wer sich trotz ausbleibender Reaktion auf seine Arbeit nicht von der Schreibmaschine oder der Kamera loseisen lässt, ist in meinen Augen ein ebenso würdiger Künstler wie die, die man im Louvre findet. Ich könnte es niemals so treffend ausdrücken wie Fernando Pessoa:
“Selbst wenn wir wissen, dass ein nie zustande kommendes Werk schlecht sein wird, ein nie begonnenes ist noch schlechter! Ein zustande gekommenes Werk ist zumindest entstanden. Kein Meisterwerk vielleicht, aber es existiert, wenn auch kümmerlich wie die Pflanze meiner gebrechlichen Nachbarin. Diese Pflanze ist ihre Freude, und hin und wieder auch die meine. Was ich schreibe und als schlecht erkenne, kann dennoch die eine oder andere verwundete, traurige Seele für Augenblicke noch Schlechteres vergessen lassen. Ob es mir nun genügt oder nicht, es nützt auf irgendeine Art, und so ist das ganze Leben.” - Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe
Rausgerissenes
Gerüche, das Licht, der Auslöser, die tiefen Augen, die Haut, Haarsträhnen, alles ist Plattenhören im Pastisrausch, Knistern und Wellen auf den Innenseiten meiner Augenlider.
17. Juli 2020, 17:20 Uhr
Ich habe vergessen, wie es aussieht, wenn sich jemand zum ersten Mal eines meiner Bilder ansieht. Ich habe eine sehr abgewandte Haltung zu ihnen bekommen. Sie existieren neben mir. Wie ein Schatten, nicht wie ein Spiegelbild. Richard Brautigan schrieb in seinem Vorwort zu „Die Pille gegen das Grubenunglück von Spring Hill“: „Ich schreibe die Bücher bloß, ich bin nicht der Hüter ihrer Seiten. Ich kann mich doch nicht ewig um sie kümmern. Das wäre ja glatter Unsinn.“ Ich wünschte es wäre kein Unsinn. Ich suche die Nähe meiner Arbeit hier und da, doch immer scheint sie mir entglitten, die Berührung verflüchtigt, der Moment vergessen und aufgelöst. Beim Schreiben ist es anders. In meinen alten Notizheften vermag ich in mancher Seite noch einen Funken zu finden, der mich mit meinem damaligen Sentiment verbindet. Mit den Fotos ist es eins geworden. Gerüche, das Licht, der Auslöser, die tiefen Augen, die Haut, Haarsträhnen, alles ist Plattenhören im Pastisrausch, Knistern und Wellen auf den Innenseiten meiner Augenlider. Vielleicht liegt es daran, dass mir die Geschichten abhanden gekommen sind, alles nicht mehr Teil einer Erzählung war ab einem bestimmten Punkt, das Ende des Romans und der Beginn eines niemals endenden Kurzgeschichtenbandes. Manchmal, da sehe ich Menschen meine Fotos betrachten, vielleicht bedeuten sie ihnen irgendwas, sie schauen sie an wie das Foto eines Geliebten, manchmal. Sie sind, und waren, immer meine Realität, auch wenn sie mit ihrer nichts zu tun hatten. Und jetzt sitze ich in diesem Café und trinke Cola und verliere mit jeder Sekunde eine Erinnerung an die Sanduhr meiner Unsicherheit.
17. Juli 2020, 18:30 Uhr
Doch lasst mich, das hier ist kein Manifest des Trübsals, das bin immer noch ich, die Antenne im Wind, den Empfänger aufs Radiomeer, verblühend und 36, und sehe die Farben vor mir, nicht im Rücken. Und die Cola ist zu Wein geworden und die Sandkörner fallen schneller, und doch weicher an diesem Nachmittag, an dem ich wieder an allen Orten gleichzeitig bin, doch nirgends wirklich.
21. Juli 2020, 12:40 Uhr
Vor ein paar Wochen ist mir eine ganze Patrone orangener Tinte ausgelaufen in meiner Ledertasche. In der Sonne neben meinem Tisch sieht der getrocknete Fleck aus wie die Silhouette eines totgefahrenen Hüttensängers.
21. Juli 2020, 13:30 Uhr
Alles hier wirkt französisch. Nichts ist es.
22. Juli 2020, 18:39 Uhr
Sie trägt eine Zeitung unter dem Arm und geht in ein Café. Wer macht sowas noch?
4 Minuten später…
Ich trage seit Wochen ein Notizbuch mit mir herum und habe noch nicht eine Seite beschrieben. Es ist sehr schwer. Obwohl es nur Papier ist.
25. Juli 2020, 8:42 Uhr
Von einer Frau geträumt, die in Leinenkleidern lebt und Blüten als Lesezeichen nimmt. Wenn sie mit einem Buch fertig ist, ist die Blüte getrocknet. Sie lässt sie auf der letzten Seite zurück und stellt das Buch in ihr Regal. Ihre Bibliothek - ein unsichtbarer Garten.
AGFAMATIC TEEN 70' UND DAS GEHEIMNIS DES OOZE
Meine erste Kamera schenkte mein Vater mir im Sommer 1991. Fortan trug ich seine ausrangierte Agfamatic Pocket überall herum, knipste, was mir so begegnete, natürlich ohne dass ich einen Film eingelegt hatte - das „Ritsch-Ratsch- Klick“ der Kamera war mir Belohnung genug auf meinen ausgedehnten Ausflügen als Reportagefotograf.
Meine erste Kamera schenkte mein Vater mir im Sommer 1991. Fortan trug ich seine ausrangierte Agfamatic Pocket überall herum, knipste, was mir so begegnete, natürlich ohne dass ich einen Film eingelegt hatte - das „Ritsch-Ratsch- Klick“ der Kamera war mir Belohnung genug auf meinen ausgedehnten Ausflügen als Reportagefotograf. Ich betrachtete die Welt nur noch durch den winzigen Sucher des schwarzgrauen Kastens mit dem flachen roten Knopf auf der Oberseite. Schön wäre, und sicherlich die bessere Geschichte, wenn das den Beginn meiner fotografischen Entwicklung markiert hätte. Doch schon drei Tage später nahm ich mein Geschenk mit ins Kino. Während des Abspanns von „Turtles II - Das Geheimnis des Ooze“ ließ ich meine Agfamatic im verdunkelten Saal des Stadttheaters auf dem Kinosessel liegen. Meinen Verlust bemerkte ich erst am Abend. Tags darauf fuhr ich nach der Schule mit dem Rad zum Theater, doch niemand hatte die Kamera gefunden und beim Kartenabreißer abgegeben. Ich traute mich nicht nach Hause und fuhr den Rest des Nachmittags ziellos durch die verregneten Straßen meiner Heimatstadt. Es dauerte mehr als ein Jahrzehnt, bis ich wieder eine Kamera in die Hand nahm.
Kunst spielte in meiner Kindheit keine Rolle. Ich hörte Musik, die in den Charts lief, schaute Samstagabendshows und spielte Fußball bis die Sonne unterging. Erst nach der Trennung meiner Eltern, die mit einem eigenen Fernseher und der Beförderung zum Schlüsselkind einherging, öffnete sich mein Horizont. Ich begann, bis fünf Uhr morgens Filme zu schauen und die Schule zu schwänzen. 1:15 Uhr in der Nacht wurde für mich das 20:15 Uhr der Schafe. Ich schaute Spielfilme, die ich nicht verstand, mit Schauspielern, die ich nicht kannte und fühlte mich wie ein Eroberer, da ich wusste, dass all meine Freunde bereits schliefen und ich allein war. Nur ich, die Nacht, die Litertüte Orangensaft und die Filme, über die sonst keiner sprechen konnte am nächsten Tag in der Schule. An die meisten Streifen kann ich mich nicht erinnern, doch „Der Reporter“ von Michelangelo Antonioni war dabei, auch Wim Wenders „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“. Die ersten autoerotischen Experimente ereigneten sich, nachdem ich um drei Uhr in der Nacht die Verfilmung von Henry Millers „Stille Tage in Clichy“ auf Tele 5 gesehen hatte. Das Buch las ich erst Jahre später.
Mit 21, als junger Lokaljournalist und selbstsernannter Schriftsteller, fragte mich mein Chefredakteur, ob ich nicht eine Kamera hätte und ein Foto von der nächsten Veranstaltung mitbringen könne. Immer einen Fotografen mitzuschicken, lohne sich nicht. Also lieh ich mir die kleine Kompaktkamera der älteren Schwester meiner Freundin und veröffentlichte mein erstes Foto. Es zeigte eine Frau, die mit Kasperletheater über die Dörfer zog. Der automatische Blitz der kleinen Rollei hatte die herzliche alte Dame zu einer mysteriösen Hexe verschattet, aber meinem Redakteur war das gleich. Nun war ich also Journalist - und Fotograf. Von meinem Ersparten kaufte ich mir im darauffolgenden Sommer eine Einsteiger-DSLR mit KIT-Zoom, ein Setup, das mich über die nächsten zehn Jahre begleiten sollte. Ich verwandte mehr Aufmerksamkeit auf die kleinen Notizbücher und Reporterblöcke, die ich aus aller Welt bestellte und in die Seite meiner Kameratasche stopfte, als auf meine Nikon, die nur dazu diente, mir mehr Platz zum Schreiben zu verschaffen. Denn so lief das damals: je besser das Foto, das ich mitbrachte, desto mehr Text durfte ich dazu schreiben, desto weiter rückte ich nach vorne in der Zeitung, bis ich schließlich auf der Titelseite des Lokalteils landete. Wöchentlich. Dass das allein wegen meiner besser werdenden Fotos geschah und nicht aufgrund der mageren Texte, habe ich damals ignoriert.
INTIMITÄT, AUTHENTIZITÄT UND PHANTASTIK
Erst als mir mit 30 das Buch „You and I“ von Ryan McGinley in die Hand fiel, begann ich die Fotografie als Medium des Geschichten erzählens anzuerkennen und eigene Versuche in dieser Kunstform zu unternehmen. Den Lokaljournalismus ließ ich hinter mir, drei Romanversuche aus meinen Zwanzigern im Keller verstauben. Mein Start in die Fotografie wurde zu einem Ausbruch aus dem bürgerlichen Grab, das ich mir selbst geschaufelt hatte. Ryans Fotografie diente mir als Einstieg, insbesondere die Intimität, die Authentizität und das gleichzeitig Phantastische in seinen Fotos. Alberto García Alix folgte mit seinen 60er Jahre Dokumentarfotos aus seinem Halbstarken- und Motorradfreundeumfeld, doch den absoluten Durchbruch eröffnete mir Saul Leiter. Leiters Einfluss auf meine eigenen Fotos scheint manchmal sicher sehr stark durch. Seine Portrait- und Boudoirfotos schaue ich mir immer wieder an, als wären es visuelle Gebete. Es sind rausgerissene Momente aus einem Tagebuch, dahingeworfene Skizzen und Tagträume, intim, ernsthaft und wahrhaftig. Er ist zu gleichen Teilen Maler und Fotograf.
Leiters Motive stammen aus seinem persönlichen Umfeld. Es sind Wegbegleiter, Ehefrauen, Geliebte, Modelle. Mein Versuch war es, diese Intimität auch zwischen zwei Unbekannten herzustellen, einen Moment außerhalb der Zeit, der vielleicht nur für mich und die Person vor meiner Kamera existiert, eine Erinnerung an einen Moment, der nie stattgefunden hat, das Romanhafte in der Fotografie - authentische Fiktion, eben keine fiktive Authentizität. Die Verbindung im Bereich der achtzigtausend unsichtbaren Zeichen herzustellen, ohne als Regisseur zu sehr einzugreifen. Ich war Wim Wenders auf der Suche nach dem, was ungesagt bleibt und trotzdem erscheint. Bei ihm sind es meist Schauspieler, die er auf diese Weise agieren lässt. Bei mir sind es oft Laien. Das ist meine Aufgabe.
Das Mise en Scène folgt dabei intuitiv der inneren Bilderbibliothek, die ich in mehr als dreißigjähriger Filmsucht unterbewusst bestückt habe. Zufälle und popkulturelle Einflüsse wechseln sich dabei ab und bestenfalls entsteht ein Foto, das auch einem alten Film entnommen sein könnte, ein „Film Still“, das trotzdem etwas Neues in sich trägt. Das ist Fluch und Segen zugleich. Meine Bilderbibliothek hat anscheinend einen hohen Wiedererkennungswert und ich kann ihr kaum noch entfliehen. Mein eigener Stil. Für mich ist er oft die hundertste nächtliche Wiederholung von Cameron Crowes autobiografischem Film „Almost Famous“ auf RTL II. Dann wünsche ich mir manchmal, dass ich doch einen 110 Pocket Film in der geschenkten Agfamatic gehabt hätte, um mir heute die Bilder anschauen zu können, die mein achtjähriges Ich 1991 von seiner Umwelt gemacht hat. Ohne äußere Einflüsse, ohne Kenntnisse. Almost Famous werde ich jedes mal wieder schauen, wenn ich durch Zufall reinschalte. Doch wer weiß, was noch kommt.
Alles ist möglich.
Diesen Text über meine ersten Schritte als Fotograf habe ich für das 2getherMAG geschrieben, das im Dezember im Print rauskam.
Der schüchterne Kartograph
Mit acht Jahren begann meine Phase als schüchterner Kartograph. Wenn man oft genug die gleiche Abzweigung nimmt, landet man wieder beim Ausgangspunkt. Das hatte ich von meinem Onkel gelernt.
Mit acht Jahren begann meine Phase als schüchterner Kartograph. Wenn man oft genug die gleiche Abzweigung nimmt, landet man wieder beim Ausgangspunkt. Das hatte ich von meinem Onkel gelernt. Eine Zeit lang stieg ich jeden Nachmittag auf mein mit Panini-Stickern der WM 1990 zugeklebtes Fahrrad und erkundete das Gebiet um das Grundstück meiner Großeltern. Als Einzelkind verursachten mir derlei Alleingänge ein unbestimmtes Rauschgefühl. Ich fuhr jeden Tag in unserer Straße los und erkundete eine unbekannte Straße mehr als am Vortag, Bog dann mehrmals rechts oder links ab und landete wieder vor unserem Haus. Ich sagte meinen Eltern nichts von diesen Ausflügen und wollte kein Risiko eingehen, einmal den Weg zu verlieren. Die ersten Fahrten waren natürlich sehr kurz, doch gewann ich durch mein zögerndes Vorgehen eine gewisse Sicherheit und mit jedem Tag kam eine Kreuzung dazu, ein Wohnblock, ein Viertel. Straße um Straße legte ich eine imaginäre Karte meiner Umgebung an, zeichnete Abkürzungen ein, Obstbäume, die sich vielleicht im Spätsommer lohnen könnten, die weißen Häuser am Rand des Viertels, in denen die Ärzte des Hospitals lebten, die Litfaßsäulen und Zigarettenautomaten, vor denen ich manchmal etwas Kleingeld fand. Jeden Tag verlängerte sich die Route, doch nie erweiterte ich die Karte in meinem Kopf um mehr als eine Kreuzung oder einen Wohnblock auf einmal. Ich blieb ein gehemmter Kartograph. Ich schaute in die Fenster der Häuser, sah die alten Menschen in ihren Gärten arbeiten, Väter und Mütter nach Hause kommen, Spielzeug in den Einfahrten, bunte Kreidezeichnungen auf dem Asphalt und die ersten Blätter, die im September golden auf die Straße regneten. Ich zeichnete wie mit einem Zirkel - die erdachte Nadel stach ich als Startpunkt in den Rasen vor unserem Haus und meine Fahrten waren der Bleistiftstrich durch eine Welt, die ich Tag um Tag erweiterte. Alles wurde zu meinem Gebiet. Hätten meine Eltern gewusst, wo ich mich jeden Nachmittag aufhielt, wären sie sicher außer sich geraten. Doch für mein Verständnis fuhr ich jeden Tag nur eine einzige Kreuzung von meiner Heimat weg. Ich machte niemals größere Sprünge. Und doch erreichte ich nach einigen Wochen andere Viertel, Stadtteile, Dörfer, fuhr bis an den Stadtrand. Ich war ein beständiger, doch schüchterner Kartograph. Ein junger Gaviero Maqroll auf seinen Irrfahrten durch ein imaginäres Land.
Irgendwann erreichte ich bei meinen Touren als Achtjähriger einen Waldweg, der mir durch Wanderungen mit der Großmutter schon bekannt war. Auf diesem Weg gibt es ebenfalls drei Linksabbiegungen, die einen wieder zurück auf die Hauptstraße führen. Doch bei der ersten Abbiegung konnte man auch geradeaus weitergehen, wenn man einen kleinen Zaun überstieg, es schien offensichtlich verboten. Auf einer der Wanderungen hatte ich eine Gruppe Jugendlicher mit Bierdosen in der Hand auf diesem Weg gesehen und nun stand ich allein vor diesem Zaun. Ich band mein Fahrrad an einen Zaunpfahl, versuchte es mit ein paar Blättern zu tarnen und stieg an einer tiefen Stelle über den Stacheldraht. Es war 1991, fast Winter und ich stand bis zu den Knöcheln im nassen Laub, während die kahlen Äste über mir im Wind schaukelten. Ab hier gab es keinen befestigten Weg mehr und ich stapfte durch die matschigen Blätter. Manchmal befürchtete ich erwischt worden zu sein, wenn einer der Äste hinter mir im Wind knackte. Vor mir lag die Ungewissheit, das Rauschen der Autobahn und das Taumeln des Waldes. Zwischen den Bäumen lagen Bierdosen, Plastiktüten, Kondompackungen. Nach einem Kilometer erreichte ich eine kleine Lichtung. Das schien der Treffpunkt der Jugendlichen zu sein, noch mehr Bierdosen, Schnapsflaschen und Müll. Ich lief weiter, tiefer in den Wald hinein, es war ja noch keine Abbiegung gekommen, ich bewegte mich also immer noch innerhalb meines imaginären Konstrukts. Nach einem weiteren Kilometer endete der Weg vor einem großen Zaun. Dahinter eine Reihe Tannen und das Rauschen der nahen Autobahn. Der Zaun war zu hoch, um zu klettern. Also griff ich mit meinen Händen in die Drahtknoten und blieb davor stehen. Ich würde nie erfahren, wie es hinter dem Zaun und hinter den Tannen aussah. Ich kehrte noch sehr oft an diesen Ort zurück in diesem Winter. Das Rauschen der Autobahn täuschte eine Illusion von Unerforschtem vor und ich fiel darauf herein. Es wurde zu einem Rauschen, das mich mein Leben lang begleiten würde. Nur zwei Geräusche können dieses Empfinden in mir auslösen. Das Rauschen der fernen Autobahnen am Stadtrand und das weiche Tosen der Brandung. Die Strahlkraft des Unbekannten. Die Wogen der Unsicherheit, auf die ich mich nie begeben werde. Dreißig Jahre sind seitdem vergangen. Und ich bin immer noch der schüchterne Kartograph von damals, der epische Eroberer, der Urheber hinter der Zeit. Nur dass die Nadel des Zirkels mittlerweile in meinem Inneren eingeschlagen ist. Und ich den kosmischen Raum auf den Seiten anderer durchwandere.
Analphabet und glücklicher Mensch
Niemand wartet auf dich. In tiefer Nacht sind es sogar noch weniger. Ich musste eine Reihe meines Bücherregals leerräumen, um diese Zeilen hier im Stehen tippen zu können. Mein Rücken zerfällt langsam auf meinem Stuhl. Zu meinen Füßen liegen unzählige bedruckte Papiere.
11. Mai 2020, 3:22 UHR
Niemand wartet auf dich. In tiefer Nacht sind es sogar noch weniger. Ich musste eine Reihe meines Bücherregals leerräumen, um diese Zeilen hier im Stehen tippen zu können. Mein Rücken zerfällt langsam auf meinem Stuhl. Zu meinen Füßen liegen unzählige bedruckte Papiere. Matt, glänzend, einige wie Zeitungspapier, einige wie 60er Jahre Tapete. Ich wollte in der letzten Woche anfangen, meine Bilder als Drucke zu verkaufen. Zuerst hatte ich vor, sie bei einem Dienstleister zu bestellen. Doch nach einigem Hin und Her musste ich mir eingestehen, dass das bei mir Kontrollfreak ein Albtraum werden würde. Also baute ich mir von meinen letzten Mücken ein kleines digitales Labor in meine Eulenfarm und verbrachte die letzten Tage mit der Suche nach Papieren. Und oh, boy. Als Papierfetischist eröffnete sich mir eine ganz neue Welt. Zu den ganzen Papieren, die ich probiert habe, werde ich zu gegebener Zeit noch schreiben. Gestern Nachmittag bin ich mit der Einrichtung und den Testdrucken gestartet. Jetzt ist es fast 4 Uhr in der Nacht und in den Stunden nach Mitternacht begannen die Drucke so auszusehen, wie ich es mir gewünscht habe. Die letzte halbe Stunde saß ich hier auf dem Teppich und habe einfach nur das Papier angefasst. Gleichzeitig lief „I could hear the water at the edge of all things“ von Hammock über meine Marshalls und der Titel fasst ganz gut zusammen, was ich jetzt fühle. Ich bin das einzige leuchtende Fenster in dieser Nachtstadt. Nur der Fluss ist mit mir wach geblieben und er wird mich überleben.
12. Mai 2020, 17:44 Uhr
Ein Traum der kurzen Nacht: auf der Suche nach Polaroids mit blauem Rand für einen Bildband mit dem Titel „Blue Summer“ lande ich in einer stillgelegten Schule. Dort warten zwei ältere Damen auf mich in arabischen Nachtgewändern und überreichen mir einen sandigen Umschlag, in dem ich eine Adresse am Rand der Stadt finde. Schnitt. Dort öffnet ein runzeliger Mann die Tür, den ich aus meiner Kindheit erkenne, in meiner Erinnerung lebte er immer in einer Litfaßsäule wie in einem städtischen Leuchtturm, abgeschlossen von der Gesellschaft. Jetzt ist sein Haus ein Anwesen mit einem großen Weingarten. Und wir gehen durch die verwinkelten Räume, die vollgestellt sind mit alten Filmrollen, bis wir in einen kleines Kabuff mit einem Projektor und einigen roten Sesseln aus einem Kino kommen. Der Mann führt mich zu meinem Platz und verschwindet in einer winzigen Vorführkammer, die aussieht wie ein Kassenhäuschen auf einem Jahrmarkt. Schnitt. Der Film beginnt, es ist eine Mischung aus 16mm Film und Super 8. Im Vorspann wird Jonas Mekas als Filmer und Regisseur genannt. Der Film heißt „Die Innenseite des Mantels“ und es ist mein Leben, in Tagebuchform zusammengeschnitten auf drei Stunden wie in Mekas Film „Walden“, und ich spüre in meinem Rücken wie er mich vorwurfsvoll beobachtet, während ich nicht ein einziges Mal weine.
13. Mai 2020, 11:23 Uhr
Das Verpackungsmaterial für die Drucke ist angekommen. Dafür muss ich mir etwas einfallen lassen. Auch für das ganze Papier, die Kamerataschen. Ich ertrinke in Dingen.
14. Mai 2020, 20:00 Uhr
Die Drucke sind online. Ich habe mich für matte Photo Rags entschieden. Alles Glänzende stößt mich auf Dauer ab. Verschickt in flachen Kalenderkartons, die die Hälfte des Zimmers hier einnehmen im Moment. Noch zögere ich, das Ganze öffentlich zu machen.
15. Mai 2020, 23:20 Uhr
Ich habe es getan. Erleichterung und Vorfreude. Und jemand hat meine Kunst gekauft.
17. Mai 2020, 18:30 Uhr
Den ganzen Tag Drucke gemacht und signiert, nachdem ich am Morgen mit dem Bulli in die Nähe von Ramstein gefahren bin, um aus den Untiefen der ebay Kleinanzeigen eine 50 Jahre alte Werkbank zu befreien, die meinem Opa gefallen hätte. Ich brauchte etwas, um das ganze Zeug zu verstauen und das mir Platz gibt, die Drucke einzupacken und aufzuhübschen. Außerdem musste es dazu taugen, daran auch im Stehen an meinem Laptop zu arbeiten. Und das tut es. Diese Zeilen tippe ich frohen Mutes im Stehen über meine mechanische Tastatur in mein Tablet, bevor es gleich weiter ans Einpacken geht, damit Anfang der Woche die ersten Drucke auf den Weg gehen.
The Days run away like wild Horse over the Hills
Ich werde in zwei Wochen 37. Meine Biografie bis hier hin, alles andere als ein gerader Weg mit fest definierten Zielen. Viele Kurswechsel, Abbrüche, Neustarts prägten die Jahre nach meinem Abitur, in denen es mir nie wirklich schlecht ging.
Seit Wochen erzähle ich jedem, der es hören mag, dass es mir den Umständen entsprechend gut gehe. Dass es Menschen gebe, die in viel gravierenderen Situationen sind, die unmögliches Leid erdulden müssten. Zuhause bleiben und lesen, das schafft man schon. Was macht es schon aus, dass viele Dinge im persönlichen Kontext jetzt nicht mehr funktionieren, Projekte abgesagt werden, die Freiheit maßgeblich eingeschränkt ist und vermutlich auch bleibt. Wir leiden ja im Kollektiv und jegliches Jammern gilt es zu verkneifen. Manchmal fühlt sich dann ja direkt auf derselben Kampfseite mit den „I need a haircut“ Protestlern in den vereinigten Staaten. Doch es geht gerade nicht um den Einzelnen, auch wenn das Gravierende an der Situation von den Entbehrungen und Herausforderungen des Individuums befeuert wird.
ICH BIN EIN NARZISST, DU BIST EIN NARZISST
In etwa so habe ich es auch Frank Berzbach in einem Telefonat gesagt, der als Schriftsteller und Künstler ähnlich von der Krise betroffen ist. Seine Antwort: das stimmt schon, doch man muss sein Leid und seine Schwierigkeiten auch mal kommunizieren, ganz unabhängig von der Ausgangslage und ob man nun mehr oder weniger betroffen ist von der Krise. Das hat mir in den Tagen danach zu denken gegeben. Das Problem, offen zu sprechen, liegt in diesem Fall nicht daran, dass ich Narzisst bin. Sondern daran, dass ich das weiß und es versuche zu verbergen. In der Fotografie ist das kein Problem, da habe ich diese Figur „Bob Sala“ erfunden, an die ich diesen Narzissmus abtreten konnte in den letzten Jahren.
In den vergangenen Wochen ging es mir ähnlich wie den meisten. Es gab gute, es gab schlechte Tage. Ingesamt habe ich mich ganz gut durch die Wochen getragen, bin zusammengerechnet drei Marathons gelaufen in den Weinbergen, etwas das zu meinem Anker geworden ist im Tagesablauf, lasse ich einen Tag aus, endet dieser gedanklich nicht an guten Orten. Gleichzeitig mischt sich bei mir das Verarbeiten der aktuellen Lage und alle gesundheitlichen Sorgen mit meinem Verdrängungsimpuls. Das hier auszusprechen kommt mir immer noch falsch vor. Doch es ist auch eine Wut in mir, die ich in den vergangenen Wochen verdrängen musste. Und ich habe Angst, dass diese Wut derjenigen dieser Wutbürger nicht so unähnlich ist, wie ich mir immer versuche einzureden.
WENN ICH NUR MEHR ZEIT HÄTTE
Ich werde in zwei Wochen 37. Meine Biografie bis hier hin, alles andere als ein gerader Weg mit fest definierten Zielen. Viele Kurswechsel, Abbrüche, Neustarts prägten die Jahre nach meinem Abitur, in denen es mir nie wirklich schlecht ging. Ich hatte gute Jobs, Freunde, ich hätte immer wieder im Status Quo verweilen können. Trotzdem stach ich wieder und wieder in See, da das unterschwellige Gefühl, doch nicht an dem Ort zu sein, an dem ich sein wollte, immer wieder überhand nahm.
Etwa in der Zeit nach meinem 18. Geburtstag reifte in mir die undefinierte Vorstellung von einem Künstlerleben, die befeuert war von den Romanen, Briefen und Tagebüchern meiner liebsten Schriftsteller. Ich wollte Künstler werden, vielleicht schreiben. Seit diesem Entschluss sind fast zwanzig Jahre vergangen. Und in diesen zwanzig Jahren habe ich nicht ein einziges Mal wirklich versucht ohne doppelten Boden und nur als Künstler zu leben. Ich hatte die verschiedensten Jobs, die mir alle viel Spaß bereitet haben, doch immer hatte ich diese Vorstellung von einem nicht eingelösten Lotto Ticket, von dem man sich einredet, dass es gewinnen wird. „Wenn ich irgendwann mal wirklich Zeit habe, schreibe ich meinen Roman“, „Ich nehme mir irgendwann ein Sabbatical“, „Wenn ich nur mehr Zeit für meine Kunst hätte“ - Ausreden habe ich über die Jahre genug gefunden. Diese Ausreden führten vor knapp zehn Jahren zu der ersten Krise meines Lebens, die von ungelebten Träumen angetrieben war. Aus dieser Krise bin ich damals als „Bob Sala“ herausgekrochen und habe in einer neuen Kunstform viele Dinge ausgelebt, die mir all die Jahre gefehlt hatten. Dieses „jetzt mach ich das für mich und versuche nicht mehr irgendwem zu gefallen“ förderte jedoch auch den anfangs angesprochenen Narzissmus in der Sache, die ich für mich Kunst nenne.
BOB`S LETZTER SOMMER
In den letzten Jahren führte die Kurve dann wieder weiter nach unten. Immer wieder entmutigte mich der Gedanke, nicht endlich von meiner Passion und der Kunst leben zu können. Die Schere zwischen Realität und Traumwelt wurde wieder größer und im vergangenen Winter beschloss ich nach vielen durchdachten Nächten, dass ich es in diesem Jahr endlich versuchen will. Ich beschloss, einen sehr guten Job in Karlsruhe zu kündigen und es auf eigene Faust zu versuchen, mit meinen Fotos, dem Schreiben, mein ganzes Jahr habe ich auf den Start in mein Künstlerdasein ausglegt. Angefangen mit einigen Reisen, im März sollte es losgehen. Mein letzter Arbeitstag war der 11.3. Danach sollte es nach Barcelona, Panama, Sri Lanka, Kanada, Kalifornien, ein paar Wochen nach Paris und im Sommer für einen ganzen Monat nach Berlin gehen. Ich hatte mir einen kleinen Puffer aufgebaut und die Aufträge, die ich hatte, hätten mich auf jeden Fall bis in den Herbst gebracht, vielleicht sogar bis in den Winter. Ich wollte einfach sehen, was passiert, wenn ich wirklich mal all die Energie in mein Projekt stecke und mir keine Ausreden mehr suche. Ich wollte reisen, darüber schreiben, ungebunden sein, arbeiten egal von welchem Ort, mich verpflanzen würde Hemingway sagen.
All das hat sich innerhalb der ersten zwei Wochen nach meiner Kündigung zerschlagen. Ich verlor Jobs mit einem Volumen von knapp 20.000 Euro, alle Reisen und Auslandsjobs sind on hold. Und ich landete nach 15 Jahren als Angestellter allein in meiner Wohnung. Ohne Strukturen, mit großer Unsicherheit, einem finanziellen Puffer, der eigentlich für schlechte Zeiten gedacht war und der mich vielleicht bis in den Juni bringen wird. Es hätte keinen schlechteren Zeitpunkt für meinen Start in die Selbständigkeit geben können. In Krisenzeiten und bei wichtigen Entscheidungen stelle ich mir grundsätzlich dieselbe Frage: „Was ist das Schlimmste, das passieren kann?“ - die Antwort darauf war zu Beginn des Jahres: „Nach einem tollen Sommer voller Reisen und neuer Erfahrungen, merkst du, dass es nicht hinhaut und du musst dir im Herbst wieder einen festen Job suchen.“
Es kam bekanntlich alles anders und im Moment weiß man nichts so wirklich. Doch in den ersten Tagen der Quarantäne konnte ich es mir nicht verkneifen zu denken, dass das ein besonderes Zeichen sein könnte, dass es vielleicht doch nicht der richtige Weg ist. Ich bin nicht gläubig, sehe jedoch ständig Zeichen. Und vielleicht ist das alles auch nur ein Test, ob ich es wirklich will und kein dezenter Wink, dass ich es lassen soll. Das wird sich zeigen. Es geht bei allem nicht um mich. Wir sind die Randfiguren der Existenzen anderer. Doch meine Welt wird auf diese Weise geprüft im Moment. So wie andere Welten anderen Prüfungen ausgesetzt sind. Es tut trotzdem gut, es aufzuschreiben.
Notizbuch (2)
Seit der Quarantäne wilde, teils psychedelische Träume in Realzeit. Mehrmals in dieser Woche direkt nach dem Wachwerden Bilder aufgeschrieben, Farben, Nöte. Die Tage entgleiten einem, zwischen Buchseiten, Waldläufen und Telefonaten.
10. APRIL 2020, 16:24 UHR
Seit der Quarantäne wilde, teils psychedelische Träume in Realzeit. Mehrmals in dieser Woche direkt nach dem Wachwerden Bilder aufgeschrieben, Farben, Nöte. Die Tage entgleiten einem, zwischen Buchseiten, Waldläufen und Telefonaten. Am Morgen Post aus London, Royal Air Mail, Adrian Henri, "Selected Poems 1960-1970", darin der Satz "mein Herz zerplatzt wie ein Aprilballon" - das tut es wirklich. In einem zweiten Paket eine Kiste blauer Bleistifte von Clemens. Gestern beim Umräumen zwischenzeitlich einen großen Kleiderspiegel an die Wand gegenüber des Schreibtischs gelehnt und dort vergessen. Heute dann beim Schreiben ständig versucht, nicht hineinzuschauen. Mein Weinhändler brachte gestern Weißen und Roten im Karton, auf dem Rücksitz seines weißroten Mustangs. Es könnte schlechter sein.
11. APRIL 2020, 1:37 UHR
Der Mond zwischen den Wolken, die nur deswegen ein bisschen schimmern. Höre seit Tagen nachts französische Platten. Ich kann meinen Plattenspieler mit einer kleinen Box verbinden und es klingt wie das Kofferradio, das mein Großvater sonntags in seinem Fahrradkorb durch die Gegend fuhr. Das Zimmer nur erleuchtet von Mond und Flimmerkasten. Mir fehlt die rastlose Ruhe des Lesens im Café. Ruhe dieser Tage ist oft unerträglich. Die Spannung in den Songs von Serge Gainsbourgs "No 4". Der Jarmusch Film in schwarz-weiß. Und man möchte jeden fragen: "Willst du noch nach oben kommen und ein Glas Wein trinken?". Wir, die auf dem Schrottbalkon den Mond anbeten. Ohne diese unerträgliche Spannung. Das Inhaltsverzeichnis der Wünsche.
11. APRIL 2020, 10:12 UHR
Der osmanische Luftfahrtpionier Hezarfen Ahmet Çelebi warf sich vor vierhundert Jahren mit selbstgebauten Holzflügeln (inspiriert von Leonardo da Vinci) vom Galata Turm in Istanbul und gleitete drei Kilometer über den Bosporus bis auf die asiatische Seite zum Dogancılar-Platz. Der Galata Birdman. Vom Sultan Murad IV. wurde er anschließend mit Gold und später mit Verbannung nach Algerien belohnt. Er starb mit 31. Vergangenen Dezember beschloss ich auf dem Dach des Galata Turms, dass ich irgendwann in den nächsten Jahren für ein paar Monate in Istanbul leben will, um zu schreiben. Im Fernsehen heute Bilder vor türkischen Supermärkten, Panik und Schlägereien, weil eine zweitägige Ausgangssperre zwei Stunden vor Ladenschluss über die Radiowellen ging. Die Bilder gefangen in einer Art Nachzeitigkeit. Gerade möchte ich nirgendwo sein. Auch nicht hier.
11. APRIL 2020, 17:37 UHR
Wenn wir uns das nächste Mal sehen, wird es Herbst sein. Deinen Sommer werde ich verpassen.
11. APRIL 2020, 18:45 UHR
Heute abwesend einen frischen Bleistift bis zur Hälfte durchgespitzt und eine kleine blaue Holzblüte neben den Mülleimer fallen lassen. Wenigstens das.
12. APRIL 2020, 11:49 UHR | VERSUCH ÜBER DEN GEGLÜCKTEN TAG
Eine leichte, einsame Trompete in den Hinterhöfen. Ein alter Mann vor dem Fenster im Arbeitszimmer fährt langsam Fahrrad, dass er immer wieder aus dem Gleichgewicht kommt und wild schwenkend ausgleicht. Ab und zu Blättern in "Versuch über den geglückten Tag". Wendungen um Wendungen, im Leeren.
14. APRIL 2020, 2:49 UHR
Wieder keinen Schlaf gefunden. In meine braunen Stiefel gestellt und losgelaufen in der Nacht. Unbestimmte Schritte in den Gassen der Altstadt. Die Wolken über der Straße, die geisterhafte Selbstverständlichkeit. Nächte, die von den Tagen nichts ahnen. Keine Fragen mehr im Raum, nur noch leises Rauschen. Deborah Levy lässt die Schüler ihrer Creative Writing Klassen die fiktiven Biografien schreiben, die die Replikanten in „Träumen Androiden von elektrischen Schafen?“ auswendig lernen müssen, um in der Gesellschaft nicht aufzufallen. Ich spaziere weiter durch die Nacht. Spreche meine Biografie in die kalte Luft, als würde ich mir glauben.
Der Sommer endet.
Überspannt. In der vergangenen Woche keine Nacht ohne Traum. Das Gefühl, mitten im Tiefschlaf geweckt zu werden, obwohl man verschlafen hat. Innerlich aber Ruhe, nach dem Entschluss, das Jahr in Teilen verloren zu geben.
1. November 2019, 20:17 Uhr
Überspannt. In der vergangenen Woche keine Nacht ohne Traum. Das Gefühl, mitten im Tiefschlaf geweckt zu werden, obwohl man verschlafen hat. Innerlich aber Ruhe, nach dem Entschluss, das Jahr in Teilen verloren zu geben. Volle Konzentration auf die Bereiche, die sich sich gerade noch lohnen. Die Arbeit, der vernachlässigte Körper. Gleichzeitig “Arbeit und Struktur” von Wolfgang Herrndorf wiedergelesen und Dinge in Perspektive bekommen. Am Mittwoch eine komplette Folge meines Podcasts aufgenommen und nur über Handke gesprochen. Gestern die Folge wieder gelöscht, um den Rechtfertigungen aus dem Weg zu gehen. Heute bereut.
2. November 2019, 11:20 Uhr
Kein Traum: Im Zug von Berlin nach Basel Wim Wenders begegnet. Erst die Erscheinung am Bahnsteig, der weite Mantel, der Brillenrahmen und der schwarze Hut mit braunen Ornamenten. Auch der an der Realität unbeteiligt waghalsige Schritt. Nach einer Stunde Fahrt der Beschluss, ihn in der 1. Klasse zu behelligen. Ich fand ihn im letzten Sechserabteil, seine Frau mit ihm am Fenster, zwischen ihnen Bücher und ein Laptop. Kurzer Mutverlust und dann Betreten des Abteils. Ich bedanke mich bei ihm, etwas zu förmlich, er nimmt meine Hand und fragt nach dem Stein um meinen Hals. Schwarzer Turmalin, von einer Freundin. Dann mein Geständnis, dass ich seinen und Peter Handkes Kurzfilm “3 amerikanische LPs” mehrmals die Woche zum Einschlafen schaue. “Da war ich ein sehr sehr junger Mann”, sagt er und wir sprechen über Handke. Die Enttäuschung, dass die meisten, die jetzt über Handke sprechen, ihn niemals gelesen haben. Er signiert meinen “Versuch über die Jukebox” und ich taumele lächelnd zurück in die 2. Klasse.
2. November 2019, 22:40 Uhr
Wieder in “Arbeit und Struktur” gelesen. Gleiche Voraussetzungen was die familiäre Bibliothek angeht. Bei uns im Bücherschrank: Das Guinness Buch der Rekorde 1986 und die 30-bändige Ausgabe der Bertelsmann Enzyklopädie in rotem Kunstleder. Erst mit 17 dann Hesse, Tucholsky, später Fitzgerald und Salinger von meinem Jazzfreund-Englischlehrer. Bildung per Zufall. Schöne Vorstellung, wo ich mich hätte hinlesen können.
3. November 2019, 10:20 Uhr
Der Sommer endet.
We are fucking here
Ich bin auf Maui, Kahului Airport. Ein Sonntagmorgen. Pualani, das Hula-Mädchen mit dem einladenden Lächeln auf dem Purpur-Heck der Hawaiian Airlines Maschinen, taucht wieder und wieder in die Wolken über der Startbahn ein. Der Food Court ist der einzige klimatisierte Raum des Flughafens. Den Tisch am Fenster habe ich mir mit drei 7-Dollar-Bierdosen und einem Stück Pizza für 17 Dollar erkauft.
Ich bin auf Maui, Kahului Airport. Ein Sonntagmorgen. Pualani, das Hula-Mädchen mit dem einladenden Lächeln auf dem Purpur-Heck der Hawaiian Airlines Maschinen, taucht wieder und wieder in die Wolken über der Startbahn ein.
Der Food Court ist der einzige klimatisierte Raum des Flughafens. Den Tisch am Fenster habe ich mir mit drei 7-Dollar-Bierdosen und einem Stück Pizza für 17 Dollar erkauft. Vor mir liegen die gesammelten Notizbücher der vergangenen Wochen, mein Diktiergerät, die Biografien von Alice Cooper, Shep Gordon und Dennis Dunaway. Außerdem Tourberichte und Albumkritiken von Lester Bangs, Michael Walker und Bob Greene. Dazu die aktuelle Ausgabe der Maui News, die über die bevorstehende Sonnenfinsternis berichtet, und eine Sammlung hawaiianischer Legenden und Mythen, die mir ein Surf Dude mit weißen Zähnen am Flughafenkiosk verkauft hat. Dank meines Jetlags war ich einige Stunden zu früh in der Abflughalle und unter dem Einfluss der morgendlichen Biere beginnen die Protagonisten und Nebenfiguren dieser Geschichte in meiner Fantasie vorstellig zu werden.
Da hätten wir Janis Joplin, die unvermittelt ihren linken Haken auspackt, Jimi Hendrix reitet auf einem vibrierenden Honeymoon-Bett durch das Landmark Motor Hotel, Salvador Dalí schneidet mit einer Nagelschere heißes Wasser und Jim Morrison wandert barfuß durch den Topanga Canyon nach Hollywood. Doch um die geht es hier nicht. Es geht um einen ehemaligen Bewährungshelfer, der den Sohn eines protestantischen Pastors auf den Weg zu einer der bekanntesten Kunstfiguren der Welt führt. Es geht hier und jetzt um hawaiianische Götter, Hühneropfer und ein Quäntchen Glück, um Alkoholsucht und lebenslange Freundschaft, um öffentliche Hinrichtungen, den richtigen Schwung beim Golfen und das Ende der Love & Peace-Kultur. Es geht um Rock’n’Roll in seiner ursprünglichsten Form. Es geht um Shep E. Gordon und Alice Cooper.
I. SCHOOL'S OUT
1972 fiel in einem Labelmeeting bei Warner Bros. der Satz „Let’s wrap a pair of paper panties around the vinyl to piss the parents off and sell more records.“ Dieser Ausspruch stammte von Shep Gordon, dem Manager der Alice Cooper Group, ehemaliger Drogendealer von Jimi Hendrix und zukünftiger Ex-Freund von Sharon Stone. Alice Cooper hatten gerade ihr viertes Album „Killer“ veröffentlicht, das es bis auf Platz 21 der Billboard Charts schaffte. Ein erster Erfolg, aber für Shep Gordon nicht annähernd das angestrebte Ziel. Mit der neuen Platte „School’s Out“ sollte Alice endlich in den Rock Olymp aufsteigen und dazu mussten alle Register gezogen und ein Schlüpfer zum Einsatz gebracht werden.
Doch bevor es zu diesem irrwitzigen Vorschlag kommen konnte, brauchte es eine Reihe kleinerer und größerer Zufälle, einige würden es vielleicht eher Bestimmung nennen. Auf welchen Zeitpunkt soll man den Urknall der Alice Cooper Group also datieren? Auf das Jahr 1968, als Shep in einer drogenvernebelten Nacht im Innenhof des Landmark Motor Hotels in Los Angeles von Janis Joplin verprügelt wird? Als ihre Kunstlehrerin Mrs. Sloan dem damals noch als Vincent Damon Furnier bekannten Alice Cooper und seinem zukünftigen Bassisten Dennis Dunaway an der Cortez High School in Phoenix, Arizona am Ende der Stunde eine Kopie von „The Freewheelin’ Bob Dylan“ überreicht?
2013 veröffentlicht Mike Myers die Dokumentation „Supermensch“, die die Lebensgeschichte Shep Gordons, einem der bekanntesten Unbekannten der Musik- und Fernsehgeschichte, nachzeichnet. Die Dokumentation und die von Shep nachgelieferten Memoiren „They call me Supermensch“ starten beide mit der Janis Joplin Szene im Landmark Hotel. Shep war von New York nach Los Angeles gezogen und hatte innerhalb eines Arbeitstages seinen Job als Bewährungshelfer verloren. Ohne viel Geld, dafür mit einem kleinen Vorrat an Gras und ein paar psychedelischen Drogen, nahm er sich ein Zimmer in dem heruntergekommenen Hotel und warf ein bisschen Acid ein. In der Nacht stand er zugedröhnt auf seinem Balkon und nahm wildes Schreien im Innenhof wahr. Ganz klar, da wurde jemand vergewaltigt. Er lief die Treppen herunter und versuchte die Frau aus ihrer Not zu befreien. Diese verpasste ihm allerdings direkt einen Schlag ins Gesicht. Ob er sie bitte in Ruhe lassen könne? – „We are fucking here!“
Am nächsten Tag ging er an den Pool. Dort sah er die Frau wieder, die er in der Nacht zuvor hatte retten wollen. „Bist du der Typ, der uns letzte Nacht gestört hat?“, blaffte sie ihn an – und stellte sich als Janis Joplin vor. Neben ihr am Pool saßen Jimi Hendrix, Lester und Willie Chambers von den Chambers Brothers, Bobby Neuwirth, der Road Manager von Bob Dylan und Paul Rothchild von Elektra, der damals die Alben von Janis und den Doors produzierte.
Shep entwickelte sich schnell zum Drogendealer Nummer 1 im Landmark und hing mit diesen damals noch nicht ganz so legendären Figuren der Musikgeschichte ab, die ihn irgendwann fragten, was er für ein Alibi hätte, falls die Cops mal im Landmark auftauchen sollten. „Tut einfach so, als wärt ihr unsere Manager.“ Und so wurde Shep Gordon Manager, zwar noch ohne Band, aber die vermittelte ihm dann Jimi Hendrix, der über Ecken von dieser Garagenband aus Phoenix wusste, die vielleicht noch einen Manager gebrauchen konnten. Ihr seltsamer Name: Alice Cooper.
Zurück zum Schlüpfer. Es ist 1972. „School’s Out“ würde der ganz große Wurf werden. Der endgültige Durchbruch. Das ist zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht abzusehen, weshalb Warner Bros. die Idee mit dem Slip aus Kostengründen ablehnen. Und da Shep kein Nein akzeptieren kann, bietet er an, die Kosten selbst zu bezahlen. Ein Vorgehen, das er laut Bob Greenes Tour-Memoiren „Billion Dollar Baby“ auch beim dritten Album der Band mit dem Titel „Love it to Death“ an den Tag gelegt hatte. Um das Album bei den Verkäufen auf Gold-Status zu bekommen, kaufte Shep angeblich selbst die noch fehlenden 250.000 Schallplatten dem Label ab. „Ein Investment in die Zukunft“, habe er es genannt.
Shep Gordon konstruierte öfter kleine Skandale, um seine Künstler in die Presse zu bekommen. Seien es Anrufe bei der Polizei, um ein laufendes Konzert unterbrechen zu lassen oder das eine Mal, als er Alice bei einem der frühen Konzerte ein lebendes Huhn auf die Bühne geworfen hatte, der dieses in die Menge segeln ließ, wo es in tausend blutige Teile gerissen wurde. Die Presse ist ausgerastet. Shep hatte nicht mit dem Hühnermassaker gerechnet und nahm nach eigener Aussage auch nie wieder den Tod von Tieren in Kauf. Die Publicity nahm er aber gern mit.
Zurück zum Schlüpfer. Shep setzte jedenfalls irgendwann seinen Willen durch und brachte den Hersteller der Plattencover dazu, einen guten Preis zu machen und Warner Bros. willigte letztendlich ein. Wobei er darauf achtete, nicht entflammbare Papierslips aus Kanada zu importieren. Gleichzeitig ließ Shep in Frankreich 100.000 weitere Slips anfertigen, die nicht den Regularien entsprachen, ließ diese an Warner Bros. verschicken und rief seinen Freund Tom Zito von der Washington Post an und erzählte ihm von einer großen Story, die er für ihn hätte, wenn dieser ihm dafür die Titelseite versprechen würde. Shep gab ihm die Versandnummer der illegalen Lieferung und was Zito noch so an Infos brauchte und der Plan ging auf. Die Lieferung wurde vom Zoll konfisziert und Tom Zito war vor Ort, um darüber zu berichten. „The Largest Panty Raid in History“ machte die Runde, andere Zeitungen griffen die Story schnell auf und innerhalb von wenigen Tagen wussten Millionen Eltern in Amerika davon, dass das neue Alice Cooper Album, das diese Woche erscheinen sollte, in einem Damenslip eingepackt bei ihren Kindern landen würde. Und der Rest ist Geschichte.
II. BRUTAL PLANET
Eine Woche vor Maui. Sonntagabend. Eine unbeeindruckte Kassiererin drückt mir einen schwarzen Pass mit einem grünen Alice-Cooper-Logo in die Hand: TV/Photo VIP. „Patch that on your jacket“, sagt sie und schickt mich zum Presseeingang des Greek Theatres in Los Angeles. Um mich herum vor allem Freaks. Das Konzert ist ausverkauft. Neben Alice treten Deep Purple und Edgar Winter auf, den man bereits spielen hört. Ein älterer Herr spaziert durch den Sicherheitsscanner, was nicht viel Sinn ergibt, da er nur einen winzigen Slip aus Kunstfell trägt, dazu ist er wild geschminkt und die Fellmütze auf seinem Kopf tropft vor Schweiß. Auf seinem Bierbauch balanciert er eine Coors Light Dose. Niemand beachtet ihn, die Ordner verzichten auf eine Durchsuchung. In einer kleinen Bucht direkt am Eingang zu den Tribünen sammeln sich die Fotografen. Eine sehr kleine Frau mit der Stimme von Sylvester Stallone gibt uns Anweisungen: nur drei Songs dürfen fotografiert werden, bleibt im gekennzeichneten Bereich – „danach führen wir Euch wieder ab.“ Hinter dem Tor sehe ich, wie Shep Gordon auf dem Weg in den Backstage Bereich Hände schüttelt und einem jungen Mann ein Kompliment für seine Alice Verkleidung macht. Er wirkt größer als im Fernsehen, tiefenentspannt und gleichzeitig ein wenig nervös. Sein Hawaiihemd flattert locker im Wind und dann verschwindet er durch eine schwarze Metalltür.
„Okay, let’s go, guys“, die Frau mit der Stimme von Sylvester Stallone läuft vor uns durch die Menge, ihr Klemmbrett eng an die Brust gedrückt und das Headset locker um den Hals. Wir haben Probleme, ihr zu folgen. Das Greek Theatre fasst um die 10.000 Menschen, und diese füllen jeden einzelnen Platz auf den Tribünen über und unter uns. Die Konzerte finden unter freiem Himmel statt. Band-Shirts und kurze Hosen als Dresscode. Der Fotografenbereich ist etwa 30 Meter von der Bühne entfernt und man sieht die Verwunderung in den Gesichtern einiger Kollegen, die auf diese Entfernung nicht vorbereitet sind. Dazu gehöre ich. Die anderen Fotografen flanschen riesige Objektive an ihre Kameras, wie man sie bei Footballübertragungen sieht und richten sie auf das Bühnenbild. Die Spinnenaugen von Alice leuchten auf einem großen Stofftuch über der Menge. Wir stehen direkt hinter der Bucht der Sounddesigner und kurz bevor der Vorhang fällt, nimmt Shep direkt auf dem Platz dem Tontechniker Platz. Noch während er allen die Hände schüttelt, gehen die Lichter aus. Alice betritt die Bühne zu den Klängen von „Brutal Planet“, ganz entspannt im ersten seiner vielen Outfits und genießt die Begeisterung der ersten Reihen. Shep wirft einen Blick über die Schulter zu seinem Techniker und streckt seinen Daumen hoch. In der dunklen Kabine sieht man nur seine Silhouette, die glänzende Stirn, die leicht feuchten Augen und ein stolzes Lächeln, das etwas Väterliches ausstrahlt.
Was dann in knapp zwei Stunden passiert, ist eine über 40 Jahre ausgereifte Eskalation auf allen Ebenen. Ein Alice Cooper Konzert ist ein über Jahre zur Perfektion orchestrierter Exzess. Das geht weit über zu viel Schminke und Geisterbahnrequisiten hinaus. Coopers Welt zwischen Frackträger-Dirigent, Latex-Frankenstein und glitzerndem Leopardenrock lässt dem Zuschauer wenig Gelegenheit, darüber nachzudenken, was dort auf der Bühne gerade passiert. Man bleibt in Alarmbereitschaft, da zu jedem Zeitpunkt alles passieren kann. Die Choreografien haben sich in ihrer Anlage über die Jahrzehnte kaum verändert, auch wenn Alice musikalisch sehr oft neue Wege eingeschlagen hat. Seine Show war und ist sein großes Pfund. Aus heutiger Sicht wirkt sie rührend altmodisch, die Generation der Nullerjahre würden sie vielleicht als retro bezeichnen, doch Alice verfügt aus seiner Karriere über ein Repertoire an Songs, das jeden noch so neutralen Zuschauer nach einiger Zeit vom Sitz holt. Das Greek Theatre steht an diesem Abend im August nach zwei Songs Kopf. Alice reiht Hit an Hit an Fan-Liebling und von vorn. „Ich war auch bei zwei anderen Konzerten der Tour, aber in L.A. war Alice auf der Höhe seines Könnens“, verrät mir Shep Gordon eine Woche später im Garten seines Anwesens am Strand von Maui. Doch von Hawaii weiß ich in diesem Moment noch nichts.
III. EARWIGS TO ETERNITY
Es gibt vier maßgebende Veröffentlichungen, die den Aufstieg Alice Coopers aus Augenzeugensicht beschreiben. Die Bücher unterscheiden sich in einigen Details (das Huhn wird mal von Shep angeschleppt, mal gehört es schon lange zur Bühnenshow, bevor es in der Menge aufschlägt, ...), jedoch vor allem in der Gewichtung der einzelnen Entwicklungsschritte der Band. Shep Gordon geht in „They call me Supermensch“ vor allem auf strategische Komponenten und Marketing-Coups ein, Alice Cooper schließt in „Golf Monster“ nur einen kurzen Abschnitt über die gemeinsamen Jahre ein, Journalist Bob Greene durfte 1973 als Background-Sänger mit auf die „Billion Dollar Babies“-Tour und schaut auf die Geschichte der Band vom Standpunkt zwischen dem größten Erfolg der Band und ihrer Auflösung. Nur Dennis Dunaway geht in seinem Buch „Snakes! Guillotines! Electric Chairs! My Adventures in the Alice Cooper Group“ sehr viel detaillierter auf die ersten Bandjahre ein.
Nach den ersten künstlerischen und musikalischen Aha-Erlebnissen im Kunstunterricht von Mrs. Sloan an der Cortez High, gründeten Vince und Dennis für einen Talentwettbewerb an der Schule eine Band. Sie traten als The Earwigs auf und coverten Beatles-Songs, bevor sie in kleinen Clubs als The Spiders vorwiegend mit Yardbirds- und Rolling Stones-Stücken unterwegs waren. Der letzte Bandname vor Alice Cooper war dann The Nazz. Dennis Dunaway lernte die ersten Griffe auf der Gitarre von Glen Buxton, dem späteren Lead-Gitarristen, verschwand in den Sommerferien nach den ersten Gehversuchen mit seinem Bass in seinem Elternhaus und überraschte Vincent und Glen zum neuen Schuljahr mit seinen neu gelernten Fähigkeiten. Buxton wurde später vom Rolling Stone zu einem der besten 100 Gitarristen aller Zeiten gewählt und seit seinem frühen Tod 1997 zieren die Noten seines legendären Riffs von „School’s out“ seinen Grabstein. Drummer Neal Smith und Keyboarder Michael Bruce vervollständigten die ursprüngliche Besetzung der Alice Cooper Group, ein zu Beginn unschlagbares Team, dessen Zusammenhalt sie alle Klischees der typischen Bandlehrjahre überstehen ließ: Zu fünft im Keller einer Freundin wohnen, in Bullis oder in billigen Hotelzimmern übernachten, die sie oft nicht mal bezahlen konnten, bei denen sie in den schlimmsten Phasen sogar mehrfach die Zeche prellen mussten. Und trotzdem schwammen sie auf einer Welle und bespielten bald dieselben Clubs wie die großen Bands der Zeit. Sie lernten Janis Joplin im Landmark kennen, Jim Morrison besuchte sie in ihrem heruntergekommenen Haus im Topanga Canyon und lief nach einer Séance in ihrem Keller barfuß zurück nach Hollywood. Sie verbrachten viel Zeit mit Jimi Hendrix, Dunaway ist besonders eine Nacht in Erinnerung, in der Jimi die Vibrationsfunktion seines Hotelbetts entdeckt. Er lässt sich sofort Unmengen Vierteldollarmünzen wechseln und lädt das ganze Hotel auf einen Ritt in seinem Zimmer ein.
Zeitgleich zu unzähligen schlecht bezahlten Gigs im Whiskey a Go Go Club ging die Band erstmals ins Studio. Zwei unter Frank Zappas Schirmherrschaft produzierte Alben Ende der 60er hatten mäßigen Erfolg, doch dann trat Shep E. Gordon auf den Plan, der die Band kurze Zeit später mit Bob Ezrin verkuppelte, welcher mit ihnen ihren typischen Sound entwickeln würde. Eigentlich wollte Shep The Guess Who-Produzent Jack Richardson für die Band gewinnen, der schickte jedoch nur seinen Assistenten Ezrin. Ein Glücksfall, wie sich herausstellen sollte. Bis heute zeichnet sich Ezrin für die Produktion des Großteils der Alice-Alben verantwortlich. Neben einem klar de nierten Sound begann sich allmählich auch die markenbildende Bühnenpersönlichkeit zu entwickeln. Die große Stärke der Band war es von Anfang an, sich nicht zu ernst zu nehmen. Vincent und Shep sahen die Industrie als große Spielwiese. Es gab nur Aktion und Reaktion. Mit welchem Coup konnte die größtmögliche Reaktion in der Öffentlichkeit hervorgerufen werden? Papierschlüpfer, Hühnerspielchen und öffentliche Hinrichtungen am Ende jeder Show waren nur die Spitze des Eisbergs.
IV. WELCOME TO MY NIGHTMARE
Nach „School’s Out“ und einer bahnbrechenden Tour mit dem gleichnamigen Album legte die Band mit „Billion Dollar Babies“ ihr erfolgreichstes Album vor. Sie toppten die Charts in den usa und gingen auf eine Tour, die stilprägend für die nachfolgenden Generationen war. Das Ausmaß der Produktion übertraf alles, auch im Bereich der Kosten. Und das in einer Zeit, in der Konzerte nur zur Promotion dienten. „Wir hatten ausverkaufte Hallen, aber wir kamen gerade so bei Null raus. Die Tickets kosteten damals nur 2,50 Dollar oder noch weniger. Es ging darum, die Konzertbesucher anschließend in die Plattenläden zu bekommen“, sagt Shep E. Gordon über diese Zeit. Bands mussten zwei Alben und zwei Touren pro Jahr liefern, um jede mögliche Welle zu reiten und den Umsatz zu verbessern. Ein Rhythmus, den die ursprüngliche Besetzung der Band irgendwann nicht mehr halten konnte. Und so musste Glen Buxton bei den Studioaufnahmen zu „Babies“ in einigen Fällen von einem Gastmusiker ersetzt werden. Die Band verbrachte kaum noch Zeit zusammen. Bob Greenes Bericht über das Ende der Band in „Billion Dollar Baby“ bringt es für Shep auf den Punkt – wobei die Veröffentlichung des Berichts selbst der endgültige Nagel im Sarg war. Vincent Furnier hatte sich unterdessen den Namen Alice Cooper in seinen Pass eintragen lassen und arbeitete nach der Trennung der Band allein mit Shep weiter. Sein TV-Special „Welcome to my Nightmare“ war zu gleichen Teilen Emanzipation und Aufbruch in eine neue Schaffensphase. Der Erfolg des Albums war eine Ansage an seine Kritiker und die Branche.
...Nach dem Aufwachen das erste Budweiser aus dem Kühlschrank neben dem Bett, um in Wallung zu kommen, danach einen halben Liter Blut erbrechen, um das System zu reinigen, im Anschluss die nächsten Budweiser, im Laufe des Tages dann Umstieg auf Coke mit ein paar Schuss Seagram’s VO Whiskey bei härter werdender Mischung gegen Abend...
Mit wachsendem Erfolg und Bekanntheitsgrad verlor Alice Cooper sich zunehmend im Nachtleben von Los Angeles und gründete seinen eigenen Trinker-Club in der oberen Etage der Rainbow Bar. Zu seinen Hollywood Vampires zählten unter anderem John Lennon und Harry Nilsson, die mit ihm über ein Jahr lang sein „neverending weekend“ feierten. In dieser Zeit trafen Shep und Alice auch auf Salvador Dalí, der in einem Restaurant eine Kanne heißes Wasser bestellte, das er im hohen Bogen in seine Tasse goss, um es mit einer kleinen Schere in der Luft abzuschneiden. Alice war schon früh von Dalí beeindruckt und ließ sich von dessen Kunst für die Bühnenshows inspirieren. Diese kleine Heißwassershow war ein erleuchtender Moment für Shep und ihn.
„Ich war ein gut funktionierender Alkoholiker“ schreibt Alice in „Golf Monster“, „man hat mir weder bei den Konzerten noch den Interviews angemerkt, dass ich betrunken war.“ Irgendwann musste er sich jedoch eingestehen, dass er den Alkohol brauchte, um zu funktionieren. Shep und Coopers Frau Sheryl Goddard intervenierten und schickten ihn in seinen ersten Entzug. Die Erfahrungen aus dieser Zeit verarbeitete er in „From the inside“. Und doch sollte es nicht sein letzter Besuch im Entzug gewesen sein. Die Sucht würde ihn noch über Jahre verfolgen, was beinahe auch zum Bruch mit Shep geführt hätte.
V. HOW YOU GONNA SEE ME NOW
Die Küstenstraße in dem kleinen Dorf auf Maui, in dem Shep E. Gordon seit den 70er Jahren wohnt, biegt irgendwann nach einigen Taco Bells und Souvenirshops wieder ins Landesinnere ab. Von dieser Kurve zweigt ein kleiner Weg ab,
„Dead End“ liest man auf einem schwarzen Schild. Ich biege trotzdem ab. Nach ein paar hundert Metern halte ich mit meinem Mietwagen vor einem grauen Metalltor. Die Hausnummer, nach der ich suche, gehört zum letzten Haus in der engen Straße. Ich stelle den Wagen auf ein Rasenstück vor der Einfahrt und schnalle meinen Kamerarucksack um, als ein gedrungener Mann mit einem Schnäuzer mich aus dem Fahrerfenster eines uralten Datsuns anspricht: „You’re going to Shep’s?“
Er wirkt verschlafen, sein Sitz ist weit zurückgekippt und ich kann sein Gesicht kaum erkennen. „Um, yes“, antworte ich. „You need to press the black button.“ Auf der Gegensprechanlage ist tatsächlich nur ein kleiner schwarzer Knopf zu finden. Ein paar Sekunden vergehen und das Tor öffnet sich. Der rostige Datsun folgt mir im Schritttempo und für einen Augenblick befürchte ich, ich habe gerade Sheps hawaiianischen Stalker mit auf das Gelände geschleust. Shep kommt uns entgegen, er humpelt ein wenig, das linke Bein in einer Kunststoffschiene. Er gibt mir die Hand und geht an mir vorbei zum Fahrerfenster des Datsun. Die beiden kennen sich, was mich beruhigt. „Weißt du, wer das war?“ fragt mich Shep. „Nein“, antworte ich. „Kennst du die Band Traffic?“ Es stellt sich heraus, dass ich soeben Dave Mason kennengelernt habe.
Shep hatte in letzter Minute einem kleinen Interview inklusive Fotosession für meinen Trip zugestimmt. Erst am Donnerstag hatte ich mir einen Flug von Los Angels nach Maui für Freitag gebucht und die Nacht zum Samstag in einer Airbnb-Hippie-Siedlung verbracht. Unter dem Einfluss der ersten hawaiianischen Eindrücke betrete ich Gordons Gelände und die Erinnerungen an die „Supermensch“-Doku beginnen sich mit der Realität abzugleichen. Es riecht nach Geschichte. Shep ist ein Gentleman und ein geübter Gastgeber. Sheps Erfolg misst sich nicht an Geld und Ruhm. Ihm ging es immer schon um Selbstverwirklichung, um das „coming to terms with your life“, deshalb ist er eine so unwirkliche Figur in der Musikbranche. Er ist knallharter Geschäftsmann und trotzdem verzichtet er bei Alice schon immer auf einen schriftlichen Vertrag. „Ich vertraue Shep und habe ihm immer all meine Geldangelegenheiten überlassen“, schreibt Alice in seiner Biografie, „und wenn tatsächlich mal irgendwann keins mehr da sein sollte, würde ich ihn nur fragen, wo wir wieder neues herbekommen!“ Als Shep die Band kennengelernt hatte, versprach er ihnen, nicht mit der Arbeit aufzuhören, „bevor wir nicht alle Millionäre sind.“ Für ihn und Alice war der Plan aufgegangen. Doch wenn man durch die Räume seines Hauses auf Maui schreitet, ist Geld das letzte, an das man denkt. Die Wände sind tapeziert mit Erinnerungen. Natürlich gibt es die obligatorischen Collagen aus Goldenen Schallplatten der meisten seiner Künstler. Doch man spürt, dass es hier um mehr geht.
Alice Coopers Alben aus der ersten Hälfte der 1980er fehlen in dieser Sammlung. Er veröffentlichte drei Alben, an die er sich laut eigener Aussage überhaupt nicht mehr erinnern kann. „Das war eine harte Zeit, in der auch wir unsere Probleme hatten“, so Shep, „er nahm auch härtere Drogen und damit wollte ich nichts zu tun haben. Ich hörte auf, für ihn zu arbeiten, ließ ihn lediglich mein Büro benutzen. So lange er Drogen nahm, konnte ich ihn einfach nicht unterstützen.“ Der erneute Absturz führte zu einem weiteren Entzug, der Alice endlich auf den richtigen Weg brachte. Er tauschte seine Alkohol- und Drogensucht endgültig gegen eine exzessive Golfleidenschaft ein, die ihn bis heute fast jeden Tag auf ein Grün führt. Mit der Gesundheit und dem Album „Trash“ kam Ende der 80er dann der Erfolg zurück, bevor Alice 1991 durch die „We’re not worthy“-Szene in Mike Myers Film „Wayne’s World“ auch für die MTV-Generation zu einer popkulturellen Legende avancierte. Und seitdem hält die Erfolgswelle an.
Aktuell ist Alice mit seinem neuen Album „Paranormal“ auf Tour, die Zeichen stehen gut dabei. Max Vaccaro, Labelchef von earMusic, hat dem Großmogul des Hardrocks die Türen geöffnet und jener dankte es mit einer wirklich außergewöhnlichen Platte. Eine Platte, die erneut von Bob Ezrin produziert wurde, sie beinhaltet unter anderem zwei Songs mit der originalen Besetzung der Band. „Wir hatten immer einen guten Kontakt mit den anderen Bandmitgliedern, auch nach der Trennung“, erklärt Shep. Ein gemeinsames Album sei zwar noch nicht geplant, aber „who knows?“
Sheps Haus liegt direkt am Strand und während ich ihn fotografiere reiten ein paar Regenwolken auf den Sommerwinden Richtung Sonnenuntergang. Shep zuzuhören hat etwas Beruhigendes, man spürt seine fast mythische Verbindung zu diesem Ort in der Natur, an dem er seinen Frieden gefunden hat. In dem Flughafenpaperback mit hawaiianischen Legenden wird der Halbgott Maui als Kämpfer für die gute Sache beschrieben, der nicht mit den besten Voraussetzungen gesegnet ist. Er ist nicht der beste Fischer, doch er gelangt in Besitz eines Zauberangelhakens, mit dem er die gesamte hawaiianische Inselgruppe aus den Tiefen des Meeres angelt. Er fängt die Sonne ein und macht sie langsamer, damit der Tag mehr Stunden hat und entdeckt für sein Volk das Feuer. Und er baut einen großen hölzernen Vogel, unter dessen großen Flügeln er seiner Familie Wärme und Sicherheit bieten kann. Wer einen Nachmittag mit Shep verbracht hat, kommt bei der Lektüre dieser Geschichten nicht umhin, ein bisschen von ihm in der polynesischen Mythologie zu sehen. Doch das wiederum wäre Shep Gordon sicher zuwider. Er ist am glücklichsten in seinem Tiki-Häuschen, während ein gutes Footballspiel auf einem übergroßen Fernseher läuft und er seine Familie um sich herum versammelt hat.
ANMERKUNG:
Dieser Text erschien zuerst in dem Bookazine „Vinyl Stories“ – Bookish Periodical – Ausgabe 3/2017, herausgegeben von Elegant, eine Marke der Edel Germany GmbH: https://www.edel.com
Salao
Auf dem Weg nach Hause hörte ich gestern das Hörbuch von Hemingways „Der alte Mann und das Meer“. Es ist fast 15 Jahre her, seit ich das Buch zum ersten Mal gelesen habe, danach dann noch ein paar Mal in meinen Zwanzigern und gestern dann wieder.
Auf dem Weg nach Hause hörte ich gestern das Hörbuch von Hemingways „Der alte Mann und das Meer“. Es ist fast 15 Jahre her, seit ich das Buch zum ersten Mal gelesen habe, danach dann noch ein paar Mal in meinen Zwanzigern und gestern dann wieder. Gleich zu Beginn benutzt Hemingway dort ein Wort, das ich vergessen hatte. „Salao“, was wohl vom spanischen „salado“ kommt, salzig, und so viel bedeutet wie das größtmögliche Pech, das ein Fischer haben kann. In Hemingways Buch geht es um einen alten Fischer, Santiago, der fast drei Monate lang jeden Tag ohne Beute in den Hafen zurückkehrt und deshalb von den anderen Fischern als salao abgetan wird, der seinen Mut aber noch nicht verloren hat und jeden Morgen aufs Neue aufs Meer rudert.
“Das Segel war mit Mehlsäcken geflickt, und zusammengerollt sah es wie die Fahne der endgültigen Niederlage aus”
— Ernest Hemingway, Der alte Mann und das Meer
Salao - Dieses Wort und der Satz, „Das Segel war mit Mehlsäcken geflickt, und zusammengerollt sah es wie die Fahne der endgültigen Niederlage aus“, ließen mich gestern abschweifen. Die letzten Wochen waren so voll von Ereignissen, guten und teilweise wunderbaren Ereignissen, dass ich mir fast erlaubt hätte, den vorangegangenen Winter ganz zu vergessen. Einen Abschnitt in meinem Leben, ohne den ich das jetzige Hoch sicher nicht halb so wertschätzen würde. Salao, das größtmögliche Pech, hat eigentlich nur seine Richtigkeit, wenn man in der Umkehr davon ausgeht, dass alles was einem normalerweise passiert mit Glück zu tun hat. Wenn man das Wort Glück benutzt, läuft man allerdings in unserer Gesellschaft direkt Gefahr, seine Leistung zu schmälern. Es kommt fast einem Geständnis gleich. Doch wenn ich auf die letzten zwei Jahre Blicke, komme ich nicht umher, einzugestehen, dass all die wirklich großen Ereignisse durch glückliche Zufälle zustande gekommen sind. Australien, Las Vegas, Hawaii. Es brauchte natürlich ein paar Jahre harter Arbeit von mir, das ist mir bewusst, aber am Ende spielt Glück doch einen großen Faktor. Vielleicht habe ich mir das aber auch nur zu sehr eingeredet, mir eine Ausrede gesucht, meinen Einfluss auf mein Schicksal unterschätzt. Immer wieder gab es diese Momente unglaublichen Glücks in den letzten zwei Jahren. Immer wenn ich dachte, jetzt hätte ich meine Reserven davon endgültig aufgebraucht, kam ein neues, aufregendes Projekt oder eine schicksalhafte Begegnung aus dem Nichts und es ging wieder für ein paar Monate weiter. Irgendwo in dieser Welt aus Rausch und Bestimmung habe ich dann wohl das Lenkrad losgelassen und mich komplett in die Hände des Schicksals begeben. Und das hielt in diesem Winter keine Pläne sondern eine Prüfung für mich bereit.
Viele Worte gehen den Leuten mittlerweile sehr leicht von der Hand. Schwere Worte, die man nicht leichtfertig benutzen sollte. Schicksal ist so eins. Und irgendwie ist auch das Wort „Depression“ so eins. Meine Innenwelt mit diesem Begriff in Verbindung zu bringen, das wäre nicht richtig. Da ich Menschen kennengelernt habe, die wirklich unter einer Depression leiden. So tief ist das Schwarz bei mir nicht, ist meine Gewalt über mein Denken und zu fühlen noch zu stark. Über richtige Depressionen hat David Foster Wallace in seinem Text „Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache“ sehr treffend geschrieben. Umschrieben vielleicht. Es sei zum Beispiel als wäre man unter Wasser, es gibt aber keine Wasseroberfläche und egal wohin man schwimmt, man trifft überall nur wieder auf dunkles Wasser und kommt nie an die Luft. So ist es bei mir nicht. Aber manchmal so ähnlich. Bei mir gibt es eine Wasseroberfläche, eine Meeresoberfläche. Und ich bin auch nicht direkt im Wasser, sondern in einem muffigen, schweren Taucheranzug mit einem altmodischen Taucherhelm aus Metall. Ich fühle mich durch ein Seil verbunden mit der Wasseroberfläche und in meinem Bewusstsein weiß ich immer, dass ich mich an diesem Seil wieder nach oben ziehen kann, retten kann. Mein Unterbewusstsein zieht mich allerdings immer wieder und gerne tief in das dunkle Wasser und dort fühlt es sich manchmal sehr gut an, weshalb auch mein Bewusstsein sich, mit der Gewissheit des sicheren Seils zur Oberfläche, absichtlich mit in noch tiefere Gewässer bewegt. Dort bin ich allein, ich blicke nicht mehr auf zur Oberfläche, schwebe nur durch unzählige Schattierungen der Dunkelheit, die auf mich wirken wie müde gewordene Farben. Dort bin ich allein, und salao, denn das ist dort unten nicht das größtmögliche Pech, dort ist es Glück. Dort unten leben alle meine Niederlagen und sie erwachen zum Leben, wenn ich sie dort besuche, feiern ein großes Fest mit alldem als Gast, mit dem ich nie meinen Frieden gefunden habe. Es ist eine schwarze Feier. Und ich bin der Gastgeber. Man trinkt dickflüssige Melancholie aus Sektschalen, ist gekleidet wie Scott und Zelda Fitzgerald und immer gleichbleibend erregt. Es ist leicht, sich dort einen Rausch anzutrinken. Drei, vier Gläser dieser Melancholie und ich fühle mich unbesiegbar.
Von dem Festsaal führt ein langer, fensterloser Gang zu einem kleinen Zimmer mit einem Schreibtisch. An den Wänden hängen meine Erinnerungen als gerahmte Fotografien und während die feierlichen Geräusche aus dem Festsaal noch leise an mein Ohr dringen, tippe ich diese Worte hier auf geliehenes Papier. Manchmal kann ich nur dort schreiben. Manchmal nur dort fotografieren. Manchmal nur dort leben. Es gelingt mir immer, von dort zurückzukehren. Gestärkt und voller Inspiration. Nur im vergangenen Winter gelang mir das nicht.
Ich will mich gedanklich nicht wieder in diese Zeit zurückversetzen, die etwa im November vergangenen Jahres begann. Nachdem ich die Reportage über Shep Gordon und Hawaii geschrieben hatte, setzte bei mir eine große innere Leere ein. Was jetzt? Eine Frage, die ich mir zum ersten Mal seit langer Zeit nicht beantworten konnte. Ich tauchte wieder unter Wasser, doch im Vergleich zu den Malen davor, blieb ich für eine lange Zeit unter der Wasseroberfläche. Auch wenn ich nicht tief getaucht bin, wirklich oben war ich in dieser Zeit dann nie. Auf einmal konnte ich Peter Handke lesen, ein Autor, der mich mit seiner pedantischen und kleinteiligen Schreibweise während des Studiums zum Wahnsinn getrieben hat. Plötzlich fand ich Ruhe in seinen Worten, in seiner Kleinteiligkeit und las mich durch fast zehn seiner großen Romane in nur ein paar Wochen. Um den Jahreswechsel kamen dann noch finanzielle Schwierigkeiten dazu, da einige fest eingeplante Jobs abgesagt und mein Magazin vom Markt genommen wurde. Ein neues Jahr begann, nach all dem RocknRoll der Zeit davor, und ich konnte meine Miete nicht zahlen. In diesem Abschnitt meines Lebens tauchte ich so tief wie nie zuvor. Doch statt in dem Schreibzimmer verbrachte ich Wochen auf dem schwarzen Fest meines Unterbewusstseins und besoff mich an der Melancholie und feierte mein ganz eigenes, nie Enden wollendes Wochenende aus Regennächten und Schlaftabletten. Bis ich Ende Februar dann im Krankenhaus landete. Ich war bei mir im Büro zusammengebrochen und mit einem Krankenwagen in die Notaufnahme gebracht worden, die völlig überfüllt gewesen war und wo man mich auf dem Flur in einer Ecke abgestellt hatte. Es roch nach Fäkalien und Desinfektion. Niemand beachtete mich für eine Weile und ich konnte die Augen fest schließen und mir bewusst machen, was da gerade passiert war. Ab jetzt kann ich dem Seil nicht mehr vertrauen, dachte ich. Gleichzeitig fühlte es sich aber auch lächerlich an. Ich hatte Angst. Weinte, mit dem Gesicht an der Wand des Notaufnahmenflures und dachte, dass man vor Rauhfaser keine Fotos machen sollte.
Seit diesem Tag ist sehr viel passiert in meinem Leben. Ich habe viele Entscheidungen getroffen, Dinge verändert, mein Denken verändert, so weit ich das schaffen konnte. Ich denke endlich wieder mit dem Herzen, bin den wichtigen Menschen wieder näher. Ich habe es geschafft, mir ein Schreibstübchen einzurichten, das nicht ganz so tief unter der Meeresoberfläche liegt. Doch das Wichtigste: Ich habe wieder 100 Antworten auf die Frage „was jetzt?“
Sieben in der Nacht getippte Seiten aus dem Jahr 2009
Mehr und mehr fühlst du dich wieder Mann in dieser Geschichte von Jorge Luis Borges, Funes, der nichts vergessen kann, der alles und jeden in sich aufnimmt ohne je über etwas hinwegzusehen. Dann suchst du ihn, den Jungen, mit seinem Lachen, der dir nun die Absolution der Gleichgültigkeit verweigert. Und sich versteckt. Und dich zurücklässt. In deiner ewigen Nacht.
In der vergangenen Woche habe ich beim Aufräumen ein Bündel mit Schreibmaschinenseiten gefunden. Teilweise ganz beschrieben, teilweise nur mit zwei Sätzen darauf. Es war ein Versuch, einen Einstieg in eine Kurzgeschichte zu finden und er ist fast zehn Jahre her. Manche der Sätze hätte ich auch in den vergangenen Monaten geschrieben haben können.
FRAGMENT 1
Der fette junge, der dich vom unteren Ende der Wippe ansieht. Mit Schachbrettgrinsen und feuchten Augen. Deine Beine hilflos in der Luft.
FRAGMENT 2
Ich hatte den Rausch verloren. Wenn du ihn lebst, ist er nicht existent. Erst in seiner Abwesenheit spürst du die volle Wucht, mit der er dich aus der Wirklichkeit genommen hat.
FRAGMENT 3
Es ist der fette Junge, der dich vom unteren Ende der Wippe ansieht. Mit schimmeligen Lachsalven feiert er die hilflosen Schwünge deiner Beine in der Luft. Er ist der Rausch, der dich aus der Wirklichkeit hebelt. Das Rauschen, das sich über alles legt und dich im Rhythmus der Wiederholung zwischen Morgen und Nacht wiegt. Doch dann gerätst du aus dem Takt. Deine Welt fängt an zu vibrieren und du findest dich in einer Schleife aus endlosen Nächten. Plötzlich wünschst du dir den fetten Jungen zurück, der dich vor der Realität beschützt.
FRAGMENT 4
Es ist der fette Junge, der dich vom unteren Ende der Wippe angrinst. Mit lückenhaftem Lachen quittiert er die hilflosen Schwünge deiner Beine in der Luft. Er ist der Rausch, der dich aus deiner Wirklichkeit hebelt. Es ist das Rauschen, das sich über deine Wahrnehmung legt, sobald du im Rhythmus bist, mit den immer gleichen Wiederholungen zwischen Beginn und Ende. Doch irgendwann gerätst du aus dem Takt. Und deine Welt fängt an zu springen.
FRAGMENT 5
Der Rausch war verloren. Wenn man einfach lebt, ist er kaum spürbar, beinahe nicht existent. Erst, wenn man in das Vakuum tritt, das er hinterlässt, spürt man die volle Kraft mit der man aus der Realität gehebelt war, als säße man am oberen Ende einer Wippe einem tauben Fettsack gegenüber, der einen in der hilflosen Schwerelosigkeit gefangen hält. Der Rausch war das Rauschen, das sich über alles legte, darauf hatte ich mich immer verlassen können, die alte verfilzte Decke, die dir immer wieder bis zum Kinn über den Körper gezogen wird, sobald du sie abstreifst.
FRAGMENT 6
Der Rausch war in Vergessenheit geraten. Wenn man ihn lebt, ist er kaum zu spüren, beinahe ausgedacht. Erst wenn man in das Vakuum sticht, das er hinterlässt, spürt man das volle Gewicht, mit dem er einen aus der Wirklichkeit gehebelt hatte wie ein fetter Junge, der dich vom unteren Ende einer Wippe mit verschimmeltem Lächeln mustert. Es war das Rauschen, das sich über alles legt, die sich abrollenden Wellen im Sand. Die filzige und verlauste Decke, unter der du sofort in zu tiefe Träume versinkst, bei der du jedoch am nächsten Morgen mit brennender Haut in deinem Schweiß aufwachst. Es war das fehlende Stück Film, das dir dein Bewusstsein herausreißt, bevor du auf der Autobahn nach Minuten des Unbewusstseins wieder zu dir kommst, wenige Meter vor deiner Abfahrt, und du dich fragst, wer eigentlich gerade am Steuer war. Es ist der Autopilot, in den dein Leben schaltet, wenn du dich nur annähernd deinen Zielen näherst und dich in Sicherheit wähnst. Es ist die vergängliche Betäubung, die dich den unerträglichen Rhythmus und die Gewöhnlichkeit des Daseins überdauern lässt. Unterbrochen nur von besonderem Glück, vor allem Unglück, oder dem notwendigen Zwilling der beiden, Veränderung.
Das Rauschen wollte sich nicht mehr einstellen, also hörte ich auf danach zu suchen und kehrte aus irgendeinem Ausland zurück. Ich war wie dieser Mann in der Geschichte von Jorge Luis Borges, Funes, der nichts vergessen kann und in ständiger Überwältigung leben muss, von all den Vibrationen im Bereich der Tausend unsichtbaren Zeichen, die auch mich verfolgen.
FRAGMENT 7
Es ist wie der fette Junge, der dich vom unteren Ende einer Wippe anschaut, mit Schimmellachen und schwarzen Augen. Du schreist ihn an, doch er ist taub und grinst weiter, während deine Beine in der Luft schwingen wie lose Äste im Wind. Doch du kannst nichts dafür, es ist nicht deine Schuld, das bildest du dir zumindest ein. Versuchst dir einzureden, der fette Junge sei es, der dir die Wirklichkeit versperrt. Doch der Junge ist nur der Rausch, der dich davon abhält, die Welt wahrzunehmen, voranzukommen. Er ist deine Ausrede. Niemals spürst du wirklich, dass er da ist, er ist wie ausgedacht, die Summe aller schlechten Erfahrungen, die du machen könntest und lieber vermeidest. Doch wehe er lässt dich im Stich. Wenn er nicht erscheint, nach jeder Phase der Ungewissheit und dich wieder durch die Rhythmen und Gewohnheiten deines Alltags schwimmt wie ein vollgesogenes Stück Holz in einem Fluss. Was ist, wenn er nicht mehr lächelt? Was ist, wenn er dich zurücklässt? Allein mit dir. Und der Frage: was jetzt?
Mehr und mehr fühlst du dich wieder Mann in dieser Geschichte von Jorge Luis Borges, Funes, der nichts vergessen kann, der alles und jeden in sich aufnimmt ohne je über etwas hinwegzusehen. Dann suchst du ihn, den Jungen, mit seinem Lachen, der dir nun die Absolution der Gleichgültigkeit verweigert. Und sich versteckt. Und dich zurücklässt. In deiner ewigen Nacht.
Rocket Man
Ein Landstreicher trifft eines Nachts einen Gleichgesinnten und teilt sich mit ihm Essen und Feuer. Der Fremde stellt sich als ehemaliger Teil einer Freak Show heraus. Sein ganzer Körper ist tättowiert. Die Tattoos sind exakt getrennt in einzelne Stücke, die in der Nacht zu Leben beginnen. Die Geschichten, die von den Tattoos erzählt werden, sind die Kurzgeschichten in dem Band.
Je länger ich auf dieser Welt bin, desto mehr verbinden sich die Momente, Begegungen und Dinge aus meiner Vergangenheit und ergeben einen unsichtbaren Sinn. Sie werden allmählich von einem Plot zu einer Story. Ob diese Verbindungen real sind oder nur in meiner Vorstellung fassbar werden, sei dahingestellt. Vielleicht verfolgen mich nur ständig dieselben Dinge.
Als ich gerade 18 geworden war, ein Jahr nachdem ich mit meinem Großvater einen meiner Lieblingsmenschen verabschieden musste, sah ich im Kino den Film „Finding Forrester“. Nach dem Tod meines Opas hatte ich sehr spät in meinem Leben begonnen, Bücher zu lesen und erste Schreibversuche unternommen, ohne recht zu wissen, was ich dabei tun sollte. Die Melancholie nach dieser ersten Berührung mit dem Tod wollte einfach nur auf Papier.
In „Forrester“ geht es um einen alt gewordenen Schriftsteller (Sean Connery), der in New York ein zurückgezogenes Leben führt und, nach großem Erfolg seines Erstlingswerkes „Avalon Landing“, 30 Jahre lang keine einzige Zeile mehr veröffentlicht hat. Er schreibt nur noch für sich selbst. William Forrester hilft im Film einem Jungen aus der Nachbarschaft seinen eigenen Stil zu finden. Es ist sein erster Kontakt zur Außenwelt seit Jahren. Im Film werden zur Einführung der Charaktere ihre Bücherregale abgefilmt, um zu zeigen, dass sie dieselben Autoren schätzen und zumindest auf diese Weise bereits miteinander verbunden sind, bevor sie sich begegnen. Diese Szenen habe ich mir damals mehrfach angeschaut, als die DVD veröffentlicht wurde. Ich schrieb mir jeden der Autoren auf, die man bei den Kamerafahrten erkennen konnte. Darunter waren unter anderem Yukio Mishima, Checkhov, James Joyce, Ken Kesey, Sam Shepard und ein Buch mit dem Titel „The illustrated Man“ von einem Autor namens Ray Bradbury. Ich hatte keine Ahnung von Literatur und hatte damals auch niemanden, der mir beim Einstieg in diese Welt hätte behilflich sein können. Also bestellte ich ein paar der Bücher aus dem Film. Es kam mir cool vor. James Joyce kam damals natürlich zu früh für mich. Ich schaffte nicht ein Kapitel ohne abzuschweifen. Doch dann las ich „The illustrated Man“ von Ray Bradbury. Es ist eine Kurzgeschichtensammlung mit einer interessanten Rahmenhandlung. Ein Landstreicher trifft eines Nachts einen Gleichgesinnten und teilt sich mit ihm Essen und Feuer. Der Fremde stellt sich als ehemaliger Teil einer Freak Show heraus. Sein ganzer Körper ist tättowiert. Die Tattoos sind exakt getrennt in einzelne Stücke, die in der Nacht zu Leben beginnen. Die Geschichten, die von den Tattoos erzählt werden, sind die Kurzgeschichten in dem Band. Ich habe das Buch geliebt.
Acht oder neun Jahre später empfahl mir ein Freund die Serie „Californication“, er sei sich sicher, ich könne mit der Hauptfigur etwas anfangen. Das stimmte natürlich. Am Ende der ersten Folge ertönt zum ersten Mal so etwas wie der Theme Song der ganzen Serie. „Rocket Man“, in der Version von My Morning Jacket von 1999. Später in der Serie taucht der Titel immer wieder im Original von Elton John auf. Und ist seitdem einer meiner liebsten Songs auf diesem Planeten.
Acht oder neun Jahre später sitze ich über den Wolken in einer Emirates Maschine von Dubai nach Brisbane, Australien. Im On-Board Programm sehe ich mir eine Elton John Doku an, in der es viel um seine Songwriting Prozesse geht. Bernie Taupin, der "Rocket Man" geschrieben hat, berichtet, dass der Song von einer Kurzgeschichte von Ray Bradbury beeinflusst ist. Ich recherchierte ein bisschen und tatsächlich, „Rocket Man“ ist eine Kurzgeschichte in „The illustrated Man“. Die Kurzgeschichte handelt von einem Raumfahrer, der Monate unterwegs ist zwischen den Sternen und dann zu seiner Familie heimkehrt, die ihn nicht wieder losziehen lassen will. In der Geschichte geht es um Sehnsüchte, Lebensentscheidungen, Bestimmung, Prioritäten und Melancholie. Je nach Standpunkt in der Geschichte, kann man sie negativ oder positiv auslegen. Wobei die positive Seite vermutlich nur von denen nachvollzogen werden kann, die selbst einmal in den Fußstapfen des Rocket Man gewandelt sind. Und von der herrlichen Zerrissenheit der Getriebenen gekostet hat. Because "next time I come home, I'm home to stay."
“I couldn’t sleep that night. I came downstairs at one in the morning and the moonlight was like ice on all the housetops, and dew glittered in a snow field on our grass. I stood in the doorway in my pajamas, feeling the warm night wind, and then I knew that Dad was sitting in the mechanical porch swing, gliding gently. I could see his profile tilted back, and he was watching the stars wheel over the sky. His eyes were like gray crystal there, the moon in each one.”
— Ray Bradbury, Rocket Man (1951)
“And I think it’s gonna be a long long time
’Till touch down brings me round again to find
I’m not the man they think I am at home
Oh no no no I’m a rocket man
Rocket man burning out his fuse up here alone”
— Bernie Taupin, Rocket Man (1972)