Welche farbe hat die wüste nachts?

3. April 2022, New York, Morgen

Die letzten drei Monate waren zu großen Teilen ein Untertauchen, eher leises Mitatmen im Schatten. Mein Körper nahm sich einige weiche Wochen. Im vergangenen Jahr gab es Veränderungen. Letztlich Müdigkeit. Manchmal saß ich an einem kleinen Holzschreibtisch in meiner Kölner Wohnung und versuchte meine Anwesenheit zu spüren. Doch oft fühlte ich mich nur den Räumen der Filme und Bücher zugehörig, die meine Bibliothek sind, der Gedankenort, der mir Heimat bedeutet. Mein Leben ist und wird ab sofort nicht mehr an Orte gebunden sein. Einen Großteil meiner Dinge habe ich hergegeben oder eingelagert. Ich binde mich an den Weg.

Kapitelweiten | 29. März 2022, Über dem atlantischen Ozean

Bei manchen Büchern
muss es zur Arbeit
des Lesens gehören
sie kapitelweit durch
die Straßen zu tragen
ihr Gewicht in Worte
schmerzhaft aufzuwiegen
sie sollten dauernd lasten
auf den Schultern sollten
den Unterschied lehren
zwischen Last und Hindernis
man sollte den Weg
der Iris über die Zeilen
in Schritten abwandern
die Absätze begehen und
jede Seite mit eitlem
Sprung verlassen.


29. März 2022, Notate aus “Mörderische Huren” von Roberto Bolaño

Im Flugzeug von Frankfurt zum JFK habe ich fast die komplette Kurzgeschichtensammlung “Mörderische Huren” von Bolaño gelesen. Eine kleine Reise in meine eigene Vergangenheit. Bolaño erzeugt mit wenigen Absätzen immer wieder das gleiche Gefühl bei mir, das ich so an seinen Büchern geliebt habe. Einige Abschnitte habe ich mir herausgeschrieben und eine kleine Auswahl davon will ich hier mit Euch teilen:

— Welche Farbe hat die Wüste nachts?, hatte ich mich vor Tagen im Motel gefragt. Es war eine rhetorische und dumme Frage, in die ich meine Zukunft mit einschloss, oder vielleicht nicht meine Zukunft, sondern meine Fähigkeit, den Schmerz zu ertragen, den ich empfand. (S. 28)

— Eines Morgens beim Frühstück fragte mich die Direktorin nach der Farbe meiner Augen. Sie sind so, weil ich wenig schlafe, sagte ich. (S. 27)

— Dann trat ich ans Fenster. Auf dem Parkplatz des Motels stand noch immer ihr Wagen. Ich öffnete die Tür und ein Windstoß aus der Wüste traf mich voll im Gesicht. Das Auto war leer. Ein Stück weiter weg, an der Straße, sah ich die Direktorin mit ein wenig erhobenen Armen, als spräche sie mit der Luft oder als rezitiere sie oder als wäre sie wieder ein kleines Mädchen, das Statue spielte. (S. 34)

— Er liest die surrealistischen Dichter und versteht kein Wort. Ein friedlicher, einsamer Mann an der Schwelle des Todes. Bilder, Wunden. Das ist alles, was er sieht. Und tatsächlich verlieren sich die Bilder nach und nach wie die untergehende Sonne, und nur die Wunden bleiben übrig. (S. 48)

— Brion Gysin war der Freund von Burroughs, der ihn auf die Idee der Cut-Ups brachte. (S. 78)

— Unausgezogen, einen Roman lesend, als wäre er in der Sprache eines fremden Planeten verfasst, schläft B ein. (S. 90)

— Das Band der Freundschaft entspann sich wie die Pest. (S. 97)

— Die unmögliche Landschaft und der unmögliche Körper. (S. 103)

— Im Rahmen des Möglichen bin ich ein normaler Mensch. (S. 107)

— …ich steuere das Motorrad mit sicherer Hand und drehe das Gas voll auf, die Gran Avenida ist um diese Zeit fast menschenleer, außer den Leuten, die aus dem Stadion kommen, und du hinter mir umfasst meine Taille. Ich spüre deinen Körper am Rücken, der sich anschmiegt wie eine Molluske am Fels, die Luft der Avenida ist um diese Zeit wirklich so kalt und geballt wie die Wellen, die auf die Molluske einstürmen, du schmiegst dich an mich, Max, mit der Selbstverständlichkeit dessen, der ahnt, dass das Meer nicht nur ein feindliches Element ist, sondern ein Zeittunnel, du umschlingst meine Taille wie zuvor das T-Shirt deinen Hals, aber die Conga tanzt jetzt die Luft, die wie ein Sturzbach in das von der Straße gebildete, gestrichelte Rohr einschießt, und du lachst oder sagst etwas, vielleicht hast du unter dem Mantel der Bäume, der die dahinziehenden Passanten beschirmt, irgendwelche Freunde entdeckt, vielleicht beleidigst du nur irgend welche Unbekannten, ach, Max, du sagst nicht tschüss, nicht hallo, nicht bis bald, du rufst Parolen, die älter sind als das Blut, aber sicher nicht älter als der Fels, an den du dich klammerst, glücklich, die Wellen zu spüren, die unterseeischen Strömungen der Nacht, und das sichere Gefühl, nicht von ihnen fortgerissen zu werden. (S. 116)


Blutbühne | 1. April 2022, Morgen

Dieser Tage entfallen mir die Träume schon beim Öffnen der Augen. Einen der wenigen, die geblieben sind, träumte ich gestern in meinem New Yorker Hotelzimmer: endlose Gänge in den Katakomben eines Theaters, rechts und links streifen mich halbgeschminkte Menschen in Unterwäsche oder schweren Stoffen. Alle sind mit sich beschäftigt, ich bin mit allen beschäftigt, sehe mich nur kurz in einem der Glühbirnenspiegel, untersetzt, eine braune Hose, Unterhemd, barfuss. Die schwach beleuchteten Gänge führen abwärts und gabeln sich, kreuzen sich, verlieren sich, enden in verschlossenen grünen Türen, so dass ich oft umkehren und neue Abzweigungen wählen muss. Die Menschen, die mir entgegenkommen, tun dies seltener, je tiefer ich mich in die Theatertunnel verlaufe.

An den Wänden hängen Fotos von alten Aufführungen, doch die Gesichter der Schauspieler wurden mit Bleistift überzeichnet, nur ihre Körper leuchten im Fresnellicht. Mit der Tiefe kommt die Stille und etwas später, leise und drohend, das Murmeln der Menschen im Zuschauerraum. Ich erreiche den Bühnenaufgang. Der Vorhang ist aus blauem Samt und redlich verschlossen. Das Rauschen auf den Rängen verstummt. Ich bin allein. Die Schauspieler, denen ich auf den Gängen begegnet bin, bleiben abwesend. Die Stufen zur Bühne sind aus altem Holz und erinnern mich an die roten Planken der Pilar, dem kleinen Fischerboot Hemingways auf Kuba, von dem ein Farbfoto über dem Schreibtisch meiner ersten Studentenwohnung hing.

Nach einiger Zeit wird mir bewusst, dass ich es bin, den man auf der Bühne erwartet. Ich steige die Holzstufen hinauf und schreite den Samtvorhang entlang, berühre mit der linken Hand den Stoff und halte an einer grünen Markierung, die jemand auf die Bühnenbretter geklebt hat. Ich stehe mit dem Gesicht in Richtung Zuschauer, die vielleicht hinter dem Vorhang warten. Ein Blick nach oben beweist mir, dass das Theater keine Decke hat, der Vorhang scheint bis in den Himmel zu reichen, auch ein Blick nach rechts und nach links offenbart die Endlosigkeit des blauen Stoffes. Alle Erwartung der Dinge hinter dem Vorhang verschwimmt zur Lethargie. Der Vorhang öffnet sich nicht. Ich versuche mit leisen Rufen jemanden hinter der Bühne zum Öffnen des Vorhangs zu gewinnen. Niemand antwortet. Die Zeit verrinnt und das Publikum bleibt stumm. Das Warten dehnt sich aus, breitet sich über meine Nacht aus und der Vorhang bleibt verschlossen. Er öffnet sich nicht. Dann wache ich auf.

Zurück
Zurück

The Swimming Poem

Weiter
Weiter

Nachtzug vor die Hunde