Die Jahre der erhabenen Melancholie
Die Atmosphäre faltete sich an diesem Tag zu einem dämmrigen Vakuum und ich allein glättete seine Kanten. Es hatte sich ein Raum eröffnet, in dem ich sein wollte. In diesem Augenblick begann für mich vielleicht das, was ich im Rückblick meine „Jahre der erhabenen Melancholie“ nennen könnte.
Die unbeschwerten Jahre meiner Melancholie rochen nach Pisse und schwarzem Gold. So nannten die Bewohner der Nordseeinsel, auf der ich als Kind einmal für ein Jahr gelebt habe, den Schlick, der in meiner kindlichen Vorstellung fähig war, alles und jeden vollständig in sich aufzunehmen und zu verschlucken. Als ich einige Zeit später auf eine Nachbarinsel dieses meines Kindheitsortes zurückkehrte, stand ich mit nackten Füßen am verregneten Strand und blickte durch den Nebel über das Meer auf die entfernten Ufer meiner Vergangenheit. Zwischen mir und diesem Ort lagen etwa 2 Kilometer und 5 Jahre, in denen meine Haare ihre Farbe von strohblond zu braun gewechselt hatten. Jetzt war ich dort mit meiner Grundschulklasse. Wir hatten den ganzen Tag am Strand auf Sand gebaut, als eine der mitgereisten Lehrerinnen sich mir plötzlich von der Seite näherte. „Du hast dort mal gewohnt, oder?“, fragte sie. “Ja”, antwortete ich, “ist schon ein bisschen her”. „Das muss eine schöne Erinnerung für dich sein!“ Sie legte mir die Hand auf die Schulter, streifte mir die Kapuze meiner Regenjacke über meinen Kopf und ging zurück zu den anderen Kindern. Ich war neun Jahre alt. Und vielleicht begann alles dort, an diesem Strand, im Regen unter einem salzigen Himmel. Meine Erinnerungen an die unbeschwerten Kindheitstage auf dieser Insel, die man nun nur noch im Nebel erahnen konnte, legten sich durch die Worte meiner Lehrerin wie eine herausgerissene Seite meines Tagebuchs um meine Schultern. Meine Innenwelt wurde mit einem warmen, weichen Schmerz übergossen, der neben unlauterem Stolz auch die wilde Vergeblichkeit der vergangenen Zeit in sich trug. Anhaltend und ungehalten aufgestellte Haare bevölkerten meine gepunktete Haut, als flüstere jemand ganz nah an meinem Ohr dunkle Mantras des Konservierens in meine Welt, während meine nackten Füße von schwarzem, feuchtem Sand umspült wurden. Herztöne, die streichenden Wellen, rauschendes Blut, Suchtbeschleunigung durch den ersten Hit vom Meeresboden. Ich konnte plötzlich meine Füße nicht mehr aus dem Sand heben. Wehmutgischt auf meinen Nackenhaaren, es tat so weh, so gut, so scheußlich gut. Die aufgewellten Bilder begannen zu stranden, ich musste sie nur aufheben, nein, mich hineinstürzen in all das Unwiederbringliche. Der Regen wurde stärker, die anderen Kinder begannen, sich in Strandkörben zu verstecken und ich zog die Kapuze zurück in den Nacken, ließ den Nebel in meine Augen, ließ den Regen in meinen Kopf, ich war süchtig, süchtig nach Trübnis, nach sinnlosem, selbstbeschworenem Elend. Doch das war mir dort noch nicht bewusst. Damals war es nur das wohlige innere Brummen im Brustkorb, das man verspürt, wenn man bestimmte Menschen im Fernseher sprechen hört oder sich wirklich einmal einer Sünde ausliefert. Die Atmosphäre faltete sich an diesem Tag zu einem dämmrigen Vakuum und ich allein glättete seine Kanten. Es hatte sich ein Raum eröffnet, in dem ich sein wollte. In diesem Augenblick begann für mich vielleicht das, was man im Rückblick meine Jahre der erhabenen Melancholie nennen könnte. Erhaben, unschuldig.
Meine Füße verkrampften im Sand, ich konnte mich nicht herausnehmen aus diesem Gefühl. Eine Stunde verging, zwei. Die anderen Kinder waren mit den Lehrern wieder zur Herberge gelaufen. Doch ich befürchtete, meine Augen niemals von der entfernten Insel lösen zu können, so lange das Meer immer wieder neue Wellen auf mich warf. Das Rauschen würde nie aufhören und ich würde es mir niemals verzeihen können, auch nur einen dieser Bilderbrüche zu versäumen. Die Dämmerung zeichnete sich ab und die ersten Lichter leuchteten im Hafen auf. Der Strand war immer noch voll mit Wanderern, Flaneuren und Kurgästen. Schon eine Stunde zuvor hatte ich den Drang gespürt, bald pinkeln zu müssen, nun war der Drang zur Not geworden, doch meine damals schon ausgeprägte Scham verbot es mir, mich einfach am Strand oder in den Dünen zu erleichtern, wo mich jemand hätte sehen können. Ich wollte mich immer noch nicht von diesen neu entdeckten Gefühlen losreißen, doch irgendwann musste ich vor meinem Körper kapitulieren und versuchte, möglichst schnell und gleichzeitig unauffällig zurück zur Herberge zu laufen. Das alte, heruntergekommene Haus war auf einem kleinen Hügel gelegen und ein schmaler gepflasterter Weg führte von den Dünen hinauf zum Eingang. Es gibt das Haus heute noch und es heißt Sturmblick.
Ich verkrampfte meinen Körper und versuchte, mit aller Macht diesen Eingang zu erreichen, doch mein Körper versagte mir. Auf dem Weg standen überall Mitschüler, lehnten an den Holzgeländern und redeten und lachten und schrien. Zwanzig Meter vor dem Eingang hielt ich es nicht mehr aus. Ich lehnte mich an ein Geländer, in Sichtweite der anderen Kinder und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Die Pisse tränkte meine Unterhose und lief an meinen Innenschenkeln herab, warm, dann schnell eiskalt, irgendwann lief es aus meiner Trainingshose in und über meine Schuhe und es bildete sich ein kleines Rinnsal, das den Weg hinablief. Ich betete, dass die anderen jetzt nicht den Hang hinaufkämen. Irgendwann lief ich mit eingenässten Hosen um das Gebäude und schlich mich in die Waschküche. Meine Sneaker schmatzten bei jedem Schritt vor Pisse und Sand. Dort zog ich mich aus und wusch in einem großen Industriebecken mit einem Stück Kernseife meine Hosen und Schuhe. Ich versuchte, keine Geräusche zu machen beim Auswringen und fand in einer kleinen Kammer, in der sie das Waschmittel und die Ersatzbettwäsche gelagert hatten, eine kleine Heizung, über die ich die Hosen legen konnte. Ich drehte sie voll auf und nahm ein Handtuch aus dem Regal, das ich davor platzierte, um mit meinem nackten Arsch nicht auf den kalten blauen Fliesen sitzen zu müssen. Die Heizung wärmte meinen Rücken. Ich hatte das Licht ausgemacht, um nach außen unsichtbar zu bleiben, saß für eine Stunde mit einem Lächeln in der pechschwarzen Abstellkammer der Jugendherberge und hing meinen trüben Träumereien nach. Es roch noch immer nach Pisse. Die Melancholie meiner Kindheit roch nach Pisse und Schlick.
Im vergangenen Jahr sah ich in einem Berliner Kino Pedro Almodóvars Film „Leid und Herrlichkeit“ darin gibt es eine Stelle, in der die Hauptfigur über das Kino seiner Kindheit schreibt. Bei dieser Stelle habe ich mich zu ersten Mal seit Jahrzehnten an diesen Moment am Strand meiner eigenen Kindheit zurückerinnern müssen und den obenstehenden Text abends an der Hotelbar in mein Notizbuch geschrieben. Die Stelle im Film ging so:
"Meine Vorstellung von Kino war mal mit dem lauen Wind der Sommernächte verbunden. Kino gab es nur im Sommer. Die Filme wurden auf eine riesige Mauer projiziert, die man weiß getüncht hatte. Besonders gut erinnere ich mich an Filme, in denen Wasser vorkam, Wasserfälle, Meeresstrände, der Grund des Meeres, Flüsse oder Quellen. Nur weil wir das Rauschen des Wassers hörten, hatten wir Kinder einen unglaublichen Drang zu pinkeln. Das erledigten wir an Ort und Stelle, links und rechts von der Leinwand. Im Kino meiner Kindheit roch es immer nach Pisse und nach Jasmin und nach Sommerwind."
- Pedro Almodóvar, Leid und Herrlichkeit
Das Theater der Häute
Endlose Nahaufnahme. Ich habe die Welt verlassen, begehe Gedichte. Das Romanhafte ist lachhaft unglaubwürdig.
1. Januar 2022, Abend
Endlose Nahaufnahme. Ich habe die Welt verlassen, begehe Gedichte. Das Romanhafte ist lachhaft unglaubwürdig.
2. Januar, Nachmittag
Ausstellungsbesuch Maria Lassnig im Käthe-Kollwitz-Haus. Eine Ecke mit ausgelegten Texten in kleinen Broschüren. Darin in etwa der Satz oder Aufruf: „Kommt der Veränderung zuvor, die die Zeit mit uns vorhat.“ Der Gedanke an die vergangenen Monate und das Gefühl, Nachhang oder Nachtrag der eigenen Biografie gewesen zu sein.
Am Morgen Besuch der Messe im Dom, die Beuys-Türen und die Bitte an mich, als Mann, doch den Hut abzusetzen. Der Sorrentino-Chor hinter den grauen Pfeilern, nur zu hören, nicht zu sehen. Näherungen an jenes höhere Wesen. Frühstück im Funkhaus. Erinnerung an 2007, als ich die gesammelten Tonaufnahmen von Heinrich Böll habe mitgehen lassen (30 CDs) und seine Stimme über Monate in meinem Wohnzimmer laufen ließ, mein rheinischer Mitbewohner. Seine Texte blieben mir fern, auch das irische Tagebuch, doch seine unbeteiligte, monotone Stimme rettete mich in Zeiten der unerhörten Stille.
2. Januar, Nacht
Zumindest zurück bei diesem Notizbuch, was nicht mehr zu erwarten war. Fülle in den letzten Wochen jeden Tag ein paar Seiten und drücke mich vor der Welt. Für einige Stunden ist das Geräusch meines Bleistifts auf dem Papier wenigstens von ähnlicher Lautstärke wie die Gedanken in meinem Bruchschädel. Manchmal Vorfreude auf den Tag nach der Nacht. Das Ende der Endlosigkeit. Die Nächte gehen ohne Naht über in bauchige Morgen, die sich über den Nachmittag ausgießen. Ich betrinke mich an der Zeit, die nicht zur Verfügung steht und die gerade deshalb so besoffen macht. Morgen werde ich zu diesen Seiten zurückkehren. Die Tinte ist warm.
Das Theater der Häute | 4. Januar, Morgen
Der Rückstand auf die Utopien verringert sich kurzläufig. Die Spitze des linken Schuhs dolcht Schritt um Schritt vorwärts, der Körper seitlich im Wind, gleichsam die nachgezogene Innenseite des rechten Schuhs, die Sichel um Sichel den Abgrund abtastend unterschwingt, entsetzliche Bewegung einer an der Mitte des Rumpfes zerteilten Raupe. Der Taghimmel Nacht und die Gesichter im Kohleflimmern der mondverhangenen Sonne. Alles schwebt.
Ein einzelnes Haar von Dir verfängt sich an der Spitze meines Federhalters und schiebt die Tinte der nassen Sätze wie eine perlschwarze Decke über diese Seite. Dahinter ein Theater, ein Vorhang aus Knochen, eine blutende Bühne und zum Trocknen aufgehangene Nervenenden über einem Holzstuhl. Jemand hat jemanden gehäutet und über die Samtränge verteilt. In der Loge singt eine einsame Mutter die unsichtbaren Kapitel des Paradiso von Lima. Im Grunde bleibe ich weltenlos.
7. Januar, Nacht
Jede Zeile und jeder Absatz eine faule Errungenschaft. Im Moment, da ich das letzte Wort aufs Papier bringe, fühlt es sich gleichsam an, als wolle ich die Seiten nur mit schlechten Argumenten überzeugen, meine Tinte nicht aus Abscheu wieder abtropfen zu lassen.
Splitter | 10. Januar, Abend
Du sagtest, du wollest
in meine Iris steigen,
mir den Splitter klauen,
das Blau eimerweise abtragen
und damit das Haus anstreichen
in dem du schreiben willst
Zapfen für Zapfen
wollest du das blasse
Blau herausbrechen
und mein Azur ernten
Bis mir die Welt grau
durch die Pillen sticht
und wir zu zweit
in den Blaudrucken
ersaufen
Dass du Diebin bist
gefiel mir als Erstes
an dir.
Gelbtrauernacht
Vor einem Jahr fand ich eine Ausgabe mit Braschs Gedichten in einer Berliner Buchhandlung. Ich las den großen Band in zwei Nächten und seitdem lässt mich dieser Mann nicht mehr wirklich los.
Gestern bei der Thalbach im Babylon. Die Letzten, die den Saal betraten, bevor die Türen hinter uns schlossen und plötzlich diese Stimme. Katharina direkt neben uns zwischen den grünen Vorhängen. Das Gesicht hinter den großen Brillenrändern, die dünnen grauen Haare und ihre weichen Hände, die den Stapel Braschseiten umschlossen, aus denen sie später lesen würde. "Du winkst, wenn ich hoch soll, wa?"
Vor einem Jahr fand ich eine Ausgabe mit Braschs Gedichten in einer Berliner Buchhandlung. Ich las den großen Band in zwei Nächten und seitdem lässt mich dieser Mann nicht mehr wirklich los, was auch an Filmen und Veranstaltungen zu seinem zwanzigsten Todestag liegt. Während der ersten Stunde des Abends versunken im Schatten neben der Bühne, dazu die Trompeten der bolschewistischen Kapelle schwarz-rot. Bella Ciao der blausamtenen Kinosessel, Fotos von Brasch auf einem Projektor, meterhoch, schwarz-weiß, seine großen Wasseraugen. Ein Abend für Thomas Brasch, ein Abend ohne Thomas Brasch. Dann die Lesung von Thalbach, die in den Siebzigern mit Brasch nach Westberlin zog, nachdem es beiden unmöglich geworden war künstlerisch tätig zu bleiben in ihrer Heimat. Sie liest Lieblingstexte, Apoll, der Marsyas Mythos, die Häutung, das Blut unter dem Pflaster. Dann Beschreibung der Wohnung in der heutigen Torstr. 68, die Manuskriptseiten von Lovely Rita (damals noch Katharina) and den Wänden, schwarz und rot getippt, ihr gespielte Echauffiertheit, dass das ja alle lesen konnten über sie in seiner Wohnung und auch Argwohn, dass es nun doch einen anderen Titel trägt. Sie liest es vor als "Lovely Katharina", wirkt gelöst, erzählt von viel Liebe und viel Streit. Liest letztlich noch herauskopierte Seiten aus einem Notizbuch ihrer Tochter Anna, eine Geschichte über Marilyn, die Brasch für seine Stieftochter geschrieben hatte. Marilyn, die Wehmut, die Gelbtrauer. Dritte Stelle, an der ich weine.
Danach Braschs Film "Engel aus Eisen". Provisorische Leinwand, Gladows Schauspieler seltsam nah, alle Gesichter des Films trotzdem seltsam entrückt, Risse auf den Wangen und in der Erzählzeit. Der Zerfall, der Riss, das Abebben, das Verzetteln, sich nicht verlieren, sich nur plötzlich nicht mehr wiederfinden. Die Angst vor den Spiegeln. Das Loslassen im Voranschreiten, ein Bedürfnis nach Heil. Das wunde Schaben an der Wahrnehmung. Wege, die sich trennen und wieder zueinander führen, sich bedingen, sich voranwerfen und sich wieder und wieder abhanden kommen. Nach der Vorstellung trunken durch die Straßen, stehen vor seiner alten Wohnung, die Lichter sind aus und wir sprechen über Koordinatensysteme und Unendlichkeit. Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.
Ein Roman aus den Pailletten von Josephine Baker
die Gedichte von Octavio Paz in einer Plastiktüte
der weiche Rauch in deinen Flügeln
Träume von Fingerabdrücken
den Blüten verstreuenden Vorführern des Kino Renoir
mittelmeerischer Wind vor den Fenstern des Apolo
die Welle leerer Balkone
Moskitos auf den Typenhebeln
in Mezcal getränkte Handtücher
schwarzes Mandala deiner nassen Haare auf dem Bettlaken
Mulatu Astatke aus Laptoplautsprechern und
die leuchtenden Feuerzeuge der avenida Paral-lel
die blauen Plakate der Bagdad Porno Show
das Manifest der Litfaßsäule
der Trompetenspieler vor dem Teatre Lorca
fiebrige Echsen in Anweiseruniform
die rote Milch der entzündeten Nacht
der Krebs in den Kneipen
die Gedichte von Octavio Paz in einer Plastiktüte
der weiche Rauch in deinen Flügeln
Träume von Fingerabdrücken
den Blüten verstreuenden Vorführern des Kino Renoir
ein phantasierender Junge auf dem Rücksitz
dann fast das Ende der Nacht
die Dämmerung im Haus des Dichters
ein vergessener Zettel in der Manteltasche
das letzte Bild
der regennasse Teppich in der Lobby
das Zimmer am Ende des Flurs
der Schirmtanz der Anti-Avantgarde
die Coda im Wandschrank
ein Roman aus den Pailletten von Josephine Baker
Die Hermes Baby Rooftop Bar
Einmal sitzt Thomas Kling mit seinem Wespennest auf dem Kopf an meinem Küchentisch und drückt seine Zunge in warmen Raki. Das Nest ist feucht und verharzt, er nimmt es nicht ab, seit er ins Land gekommen ist und ich kann ihn deswegen nicht ansehen.
Nach langer Zeit ein Traum. Ich lebe in einem Ausland. Die Sonne scheint oft und die Menschen auf den Straßen tragen Gewänder. In meinem Zimmer auf dem Dach eines über einen Fluß gebauten Apartmenthauses gibt es keine Heizung, aber fließendes Wasser. Ich lebe dort mit dem einzigen Ziel, etwas zu schreiben, das mir beweist, nicht völlig wertlos zu sein. Im Hause gibt noch andere Künstler, Musiker und Schriftsteller vorwiegend. Patti Smith, Thomas Kling, Lucia Berlin, mehr. Statt zu schreiben, empfange ich ausschließlich die anderen in meiner Wohnung und serviere ihnen starke Getränke. Patti kommt mit Jean Genet, um ihm meine Wohnung zu zeigen, sie war tags zuvor an einem Royal Hawaiian festgeklebt und hatte gedroht, jeden Tag wiederzukommen. Sie reden nicht und nippen andächtig an ihrem Drink. Jean steckt ab und zu seinen Zeigefinger in die gelbe Flüssigkeit und zeichnet damit ein feuchtes Kreuz auf Pattis Stirn. Einmal sitzt Thomas Kling mit seinem Wespennest auf dem Kopf an meinem Küchentisch und drückt seine Zunge in warmen Raki. Das Nest ist feucht und verharzt, er nimmt es nicht ab, seit er ins Land gekommen ist und ich kann ihn deswegen nicht ansehen. Berlin trinkt Bourbon und arbeitet die Seiten durch, die sie am Morgen geschrieben hat. Sie liegt auf meinem Bett, die Schulter an der Wand, die Beine unter ihrem Rock übereinander geschlagen, so dass ihre Knie aussehen wie ein mäandernder Rochen. Der Traum ist eine Schleife. An jedem Morgen setze ich mich an die Hermes Baby, die ich mit ins Land geschleppt habe, und warte auf die Bilder. Bis es klopft.
Dezembermorgen
Bleib ich nackt
und entscheide mich verborgen
Mit weichem Herzen
jetzt, für den Dezembermorgen
Die heiß leuchtenden Fenster
der Immernochwachen
in der Dämmerung der Nebeldächer
Die Kruste meiner Tintenhaut
auf alten Sommerselbsttränen
und wieder Augen
derer,
die wir nachts beweinen
Die versetzten Stiche
in die leuchtenden Narben
geteilter Erinnerung
Meine Schritte verfehlen den Asphalt
Befreiende Worte,
vergebens
verweht im Nebelatem
Dezembernachtsrufe
reichen nicht
an mein entblößtes Hirn
Bin nicht irgendwer für irgendwen
Was ich will?
Ich will den Mond aufgehen sehen
Bin Fluß
Bin Floß
zugleich
Bin nicht
Will nicht
sein
Erweiche nur Profile
Kehlenloser Abgesang
am Wegewendepunkt
Barde der Vergangenheit
Eingereiht in Geisterchöre
und die Verbeugung
auf sich warten lassend
Lass mich zurückfallen
Trete nicht hervor
Wenn hundert Wehungen
aus Walnussvenen
hirnen
schwebe ich vor, schwebe zurück
Links das Meer, rechts das Glück
Südstaccato und Schulterblick
und Salzsturm an den Schläfen
Der ellenlange Rückweglose
vor der Gabelungen Adermeer
Die Segel strandungsfest
Bleib ich nackt
und entscheide mich verborgen
Mit weichem Herzen
jetzt, für den Dezembermorgen
Mondbrand
ein Portrait ohne Augen
vorgeschobenes Ende
abgezählte Türklinken
aufgewärmtes Papier
das Polaroid eines Schattens
ein Portrait ohne Augen
vorgeschobenes Ende
abgezählte Türklinken
aufgewärmtes Papier
das Polaroid eines Schattens
ein gelber Füllfederhalter
Platten mit parallelen Rillen
durchgeriebene Bettlaken
abgebrochene Kontakte
die Bibliothek mit nur einem Gang
angestoßene Erinnerung
barfuss straucheln
ein naheliegender Sommer
eine Durchfahrt
Tritte in Pedale
flüstern im Freien
hawaiianischer Dosenkaffee
Holzspähne unter der Haut
Häuserfluchten
Atem auf grünem Glas
abgebrochene Sternenzelte
sie schnipst ein Weinglas an mit ihrem Fingernagel und hält es mir ans Ohr und der Ton verendet in der Dunkelheit / ob man auch Mondbrand bekommen kann?
Treibsand
Ausführungen eines teilweise gescheiterten Schreibers.
Ausführungen eines teilweise gescheiterten Schreibers.
Die geile Liste:
Antonio Tabucchi - Erklärt Pereira
J.D. Salinger - Catcher in the Rye
F. Scott Fitzgerald - The Great Gatsby
Ronco, der Geächtete
Hermann Hesse - Der Steppenwolf
Im Auftrag der Kosmokraten
Fünftausend Kilometer, die Kamera auf dem Sitz neben mir, das Atlan-Groschenheft auf dem Amaturenbrett und die Sterntagebücher von Lem aus den Lautsprechern. War wieder allein in diesem Sommer, zurückgeworfen auf den Klamottenhaufen meiner Talsohlenwanderei, auf die Nachwehen der Verzettelungen einiger Frühlingsmonate.
Ich habe es verpasst. Der Sommer ist vorbei. Und ich habe den Moment verpasst, an dem es sich wie Sommer anfühlte. Eine Sekunde im Sonnenlicht auf dem Balkon und in der nächsten schon vom Schnappschuss in die Langzeitbelichtung gelöst, die Bäume, das Licht der Laternen, Flecken zu Linien, die angestrahlten Fratzen vor meinem Beifahrerfenster und dann der Sommerregen wie ein letzter Vorhang an den östlichen Grenzen unserer Welt. Fünftausend Kilometer, die Kamera auf dem Sitz neben mir, das Atlan-Groschenheft auf dem Amaturenbrett und die Sterntagebücher von Lem aus den Lautsprechern. War wieder allein in diesem Sommer, zurückgeworfen auf den Klamottenhaufen meiner Talsohlenwanderei, auf die Nachwehen der Verzettelungen einiger Frühlingsmonate. Gleichzeitig verbrecherische Zuversicht, dieses mühsam erschaffene Leben, das mir doch entspricht, mit all seiner schlaflosen Fragilität, grazil und auf Sand gebaut.
Es gibt jetzt wieder Tage, an denen ich verschwinde. Nur verschwinde. Ich schreibe niemandem. Niemand schreibt mir. Bis sogar das dauerhafte, unablässige Selbstgespräch versiegt, das mich durch den Kosmos rührt. Bleibe zurück mit diesem Körper, dem Regen auf meinem Gesicht, keine Erinnerungen, kein Ausblick, gleichsam Abschluss und Beginn von etwas, das ich wohl bin, nie war und vielleicht niemals sein werde.
Dann von Berlin nach Polen, fast in der Nacht, die Autobahn weich und grau, das Meer voller Möwen und die Brandung in meinen Stiefeln und später die Markthalle von Breslau und das Netz Orangen und die polnischen Briefmarken für die elenden Hotelbriefe, die ich niemals einwarf, in die Berge nach Tschechien und das letzte Farbfoto in einem Hinterhof, ein Tisch, ein Messer mit einem Holzgriff, eine Schale Pflaumenkerne und schimmelndes Fruchtfleisch, ein Hund, dem ein Auge fehlt, all das auf dem letzten Farbfoto, doch weiß ich es nicht, habe ich doch noch keines der Bilder angeschaut, seitdem ich wieder hier sitze, an diesem Tisch, jeden Abend, jeden Morgen, der peruanische Pfefferbaum vor dem Fenster und seine Tentakeln im Herbstwind wie ausgeworfene Angeln.
Meine Kamera, dieser Röntgenapparat der Vergänglichkeit. Das Alte, Verwelkte, das ewig Gestrige, das Vergessene und das Versehrte zieht meinen Blick durch den Sucher. Auch auf dieser Reise, versteckt hinter Bauvorhaben, einem stolpernden Europa, blutleeren Gassen und Plakatwänden. Die bunten Panzerwagen der Phantasielosen, geleastes Rängegeschacher. Das Versehrte stirbt aus, wird renoviert und meistbietend verteilt. Der Blick aus den Hotelfenstern, die Neonreklamen und der Krebs in den Kneipen an der Rzeznicza, kostenloser Kaffee aus der Lobby und das Brummen der leuchtenden Hotelbuchstaben im Breslauer Nachthimmel. Dabei anhaltender Respekt vor dem Wahnsinn. Und sein Sog. Gerade beim Verfassen dieser Bekennerschreiben. Thomas Brasch vor mir, sein Spiegelbild, der graue Anzug ohne Hemd darunter, sich selbst im Spiegel filmend mit dem alten Camcorder, die wilden Lippenstiftmanifeste auf dem Glas. Die Krankenhausjournale der Ingeborg Bachmann, die niemals hätten veröffentlicht werden dürfen und die mir immer noch Angst machen in meiner Hand. Und jetzt? Die Wirklichkeit und ihre Gesichter, seltsam in Cellophan gehüllt. Irgendwann findet jemand unsere Erinnerungen in Plastiksäcken auf einem Dachboden und wird damit einfach nichts anfangen können.
Wroclaw. Vier Uhr in der Nacht. Ich beginne ein Gedicht auf dem Briefpapier des Hotels, das mit den Zeilen beginnt: "Nur die Wunde ist Leben, alle Narben sind Ohnmacht." Dann fällt mir nichts mehr ein. Ich lösche das Licht und schlafe ein, bei offenem Fenster. Morgen fahre ich weiter.
Aufzeichnungen aus dem Spätsommer 2021
Kleist statt Koks
Mein erstes persönlich geführtes Interview für diesen Podcast konnte natürlich mit niemand anderem als meinem Freund und Kollegen Frank Berzbach geschehen. Bei Croissants und Kaffee haben wir uns in seiner Kölner Wohnung über sein neues Buch "Die Kunst zu Lesen", Kleist und Koks unterhalten.
Mein erstes persönlich geführtes Interview für diesen Podcast konnte natürlich mit niemand anderem als meinem Freund und Kollegen Frank Berzbach geschehen. Bei Croissants und Kaffee haben wir uns in seiner Kölner Wohnung über sein neues Buch "Die Kunst zu Lesen", Kleist und Koks unterhalten. Hardcore.
Die Kunst zu Lesen - Videotrailer
Buchtrailer für den Eichborn Verlag
Ich durfte für den Eichborn Verlag und Frank Berzbach einen kleinen Videotrailer zu “Die Kunst zu Lesen” drehen.
Einer meiner Buchtrailer für Frank Berzbach und den Eichborn Verlag
Poetismus im Warenkorb
Nach einem wunderbar inspirierenden Wochenende in Köln, habe ich die euphorische Stimmung genutzt, um eine lockere Folge zu machen. Zu Beginn gibt es eine Textstelle aus Fernando Pessoas "Das Buch der Unruhe", die ich immer auf meinen Workshops vorlese und im Laufe der Folge nehme ich Euch mit auf eine Reise durch meinen Bücherwarenkorb.
Nach einem wunderbar inspirierenden Wochenende in Köln, habe ich die euphorische Stimmung genutzt, um eine lockere Folge zu machen. Zu Beginn gibt es eine Textstelle aus Fernando Pessoas "Das Buch der Unruhe", die ich immer auf meinen Workshops vorlese und im Laufe der Folge nehme ich Euch mit auf eine Reise durch meinen Bücherwarenkorb.
Die geile Liste:
Roberto Bolaño - Eisbahn, Die romantischen Hunde
Chris Bell - I am the Cosmos (Album), There was a Light (Oral History)
Leonard Cohen - Beautiful Losers, The Flame, Leonard & Marianne (Doku)
Jonathan Franzen - Crossroads, What if we stopped pretending
Jaroslav Seyfert - Collected Early Poetry & Collected Poetry
Georges Simenon - Tropenkoller
Friederike Mayröcker - Brütt oder die seufzenden Gärten, Études, da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete
Tom O'Neill - Chaos
Octavio Paz - Gedichte
Judith Hermann - Daheim
Prince Jellyfish
Als ich Ende des Sommers dann für die Edition Überland und ein Romanprojekt von Roman Israel mit dem Auto von Berlin aus nach Polen und Tschechien gefahren bin, habe ich an manchen Abenden im Hotel an der Folge gearbeitet. Die zwei Stunden über Hunter, die dabei herausgekommen sind, wurden von mir bestmöglich aus dem Material zusammengeschnitten, das sich dabei angesammelt hat.
Seitdem ich die erste Folge meines Podcasts aufgenommen habe, wollte ich eine Sendung über Hunter S. Thompson machen, der mir aus verschiedenen Gründen sehr viel bedeutet und der mich auf meinem Weg in den letzten Jahren sehr eng begleitet hat. Wie es oft ist, wenn man einen engen emotionalen Bezug zu etwas hat, fiel es mir schwer, die angemessen Form für diese Folge zu finden und überhaupt - der Sache irgendwie gerecht zu werden.
Als ich Ende des Sommers dann für die Edition Überland und ein Romanprojekt von Roman Israel mit dem Auto von Berlin aus nach Polen und Tschechien gefahren bin, habe ich an manchen Abenden im Hotel an der Folge gearbeitet. Die zwei Stunden über Hunter, die dabei herausgekommen sind, wurden von mir bestmöglich aus dem Material zusammengeschnitten, das sich dabei angesammelt hat. Verzeiht mir also, wenn ich mich gelegentlich wiederhole oder es kleine Sprünge gibt. Die Folge ist sicher nicht perfekt und nicht annähernd das geworden, was ich im Kopf hatte, aber so ist es jetzt nun einmal. Vielleicht ist auch genau diese Work-in-Progress Form die beste Entsprechung, die ich hätte finden können.
Großer Dank geht an Klaus Bittermann von der Edition Tiamat, der mir freundlicherweise erlaubt hat, zwei kurze Ausschnitte aus dem Hörbuch "Lieber Tom, Du Abschaum von einem verfluchten Bastard“ mit in die Folge aufzunehmen.
Erwähnte Bücher von Hunter:
Hell's Angels
The Proud Highway (frühe Briefe)
The Rum Diary
Fear and Loathing in Las Vegas
Fear and Loathing on the Campaign Trail 1972
The Curse of Lono
Gonzo Papers
Erwähnte Bücher über Hunter, sowie Hörbücher und Filme, Dokumentationen:
Timothy Denevi - Freak Kingdom (Sachbuch über den politischen Hunter)
Juan F. Thompson - Stories I tell myself (Memoiren seines Sohnes)
Klaus Bittermann - Sieben Abschweifungen über Hunter S. Thompson
Sophie Rois - Lieber Tom, Du Abschaum von einem verfluchten Bastard (Lesung der Briefe)
The Ballot or the Bomb (Doku)
Gonzo (Doku)
Buy the ticket, take the ride (Doku)
The Rum Diary (Film)
Fear and Loathing in Las Vegas (Film)
Fear and Loathing in Aspen (Film)
Die Smith-Corona Galaxie
Er kann mich nicht sehen, weil jemand die Äpfel aus seinen Augenhöhlen geklaut hat und ich bin erleichtert, weil ich ihm ungestört dabei zuschauen kann wie er Wespenhülsen auf meinen Küchenboden spuckt.
Zum ersten Mal sah ich die Galaxie an einem Dienstag Nachmittag. Ich betrat meine Wohnung und verteilte die Überreste meiner Realität über die Haken und Schränke meines Flurs. Als ich mein Schlafzimmer betrat, beiläufig und barfüßig, bemerkte ich mit dem ersten Auge die Galaxie. Sie war über meinem Schreibtisch, direkt gegenüber meines Bettes und neben einem leeren Spiegel. Ich wandte den Blick ab und ging rüber zum Fenster, das zum Fluß vor meiner Wohnung rausgeht. Auf dem Platz mit dem Kino saß auf einer Bank ein schwarzhaariger Junge mit einem schwarzhaarigen Mädchen im Schneidersitz. Neben ihnen stand ein Motorroller und ihre Helme hingen rechts und links über den Lenker. Sie wölbten sich zueinander, hielten die Luft an und berührten sich nur mit ihren Lippen, die Hände im jeweils eigenen Schoß. Sie hatten sich bereits geküsst, als ich aus meiner Realität heimgelaufen und über den Platz mit dem Kino an ihnen vorbeigekommen war —— Dunkle Wolken zogen plötzlich über dem Platz auf und die Filmplakate an der Wand hinter den beiden leuchteten. Sie mussten schon vorher geleuchtet haben, doch man sah es erst jetzt in der Dämmerung glühen. Das Mädchen küsste weiter den schwarzhaarigen Jungen und die ersten Regentropfen landeten auf dem Boden und der Geruch von nassem Asphalt stieg hoch bis an mein Fenster im zweiten Stock und der Regen wurde stärker und die beiden schwarzhaarigen küssten sich mit ihren nassen schwarzen Haaren und berührten sich weiter nicht an den Händen. Als der Regen stärker wurde, schloß ich das Fenster, rollte die Fensterläden herunter und knipste die kleine Lampe auf meinem Nachttisch an. Ich schaute aus dem Augenwinkel in Richtung Schreibtisch. Die Galaxie war immer noch da. Sie bewegte sich nicht. Danach legte ich mich ins Bett und löschte das Licht. Im Gegensatz zu den Filmplakaten begann die Galaxie nicht in der Dunkelheit zu strahlen. Auch ohne Leuchten sah ich sie deutlich vor mir. Ihr schwarz war tiefer als das Milchschwarz dieser Sommernacht.
In der ersten Nacht der Galaxie träumte ich vom Hologram Adolfo Bioy Casares an meinem Küchentisch. Ich träumte, wie er vor mir sitzt und seine weißen Zähne in eine überreife Birne drückt. Aus den dunklen Löchern der angefaulten Frucht kriechen schmerzgelbe Wespen auf seinen Mund zu und mit jedem weiteren Bissen erwischt er auch eine von ihnen mit seinen grauen Zähnen und der Saft der Birne und der Saft der Wespen tropfen an seinem glattrasierten Kinn hinunter auf den gestärkten Hemdkragen unter seiner Weste. Er kann mich nicht sehen, weil jemand die Äpfel aus seinen Augenhöhlen geklaut hat und ich bin erleichtert, weil ich ihm ungestört dabei zuschauen kann wie er Wespenhülsen auf meinen Küchenboden spuckt.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war die Galaxie immer noch da. Ich hatte das Gefühl, sie sei über Nacht gewachsen, aber ich war mir nicht sicher. Ich musste an der Galaxie vorbeilaufen, um zu meiner Küche zu kommen. Zwischen Tür und Galaxie lagen vielleicht neunzig Zentimeter. Ich ließ das Morgenlicht ins Zimmer und lief dann an ihr vorbei, den Rücken an die Wand gedrückt, um den größtmöglichen Abstand zwischen mir und der Galaxie zu gewährleisten. Ich versuchte sie im Vorbeigehen genauer zu untersuchen. Von der Seite konnte man sie kaum erkennen, sie war nicht tiefer als eine Lage Zeitungspapier. Zwischen der Galaxie und dem Schreibtisch konnte ich nichts erkennen. Sie schwebte also in der Luft. Ich ging in meine Küche, kochte Kaffee und überlegte wie die Galaxie dort hingekommen sein konnte. Es musste am Dienstag passiert sein, während ich noch in meiner Realität festgehalten wurde. Ich legte mich mit meiner Tasse Kaffee zurück ins Bett, zog die Decke bis über den Bauchnabel und betrachtete die Galaxie noch genauer. Auf den ersten Blick sah sie aus wie ein schwarzes Loch in meinem Schlafzimmer, mit einem Durchmesser von vielleicht dreißig Zentimetern. Bei Tag war sie nicht so schwarz wie noch in der Nacht. Neben dem Schreibtisch entdeckte ich einen Koffer, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Er war blau und ich vermutete, dass die Galaxie darin hertransportiert worden war. Über dem Schreibtisch hatte ich ein paar Wochen zuvor ein kleines Regalbrett angebracht, auf dem sieben Bücher aufgereiht standen, die eine gewisse Bedeutung für mich hatten. Ich hatte sie sieben Jahre zuvor einem Trödelhändler namens Albrecht Engler in Düsseldorf abgekauft. Er kaufte Nachlässe auf und rief mich immer an, wenn Bücher dabei waren. Die Sieben, die auf meinem Regal standen, hatte ich aus einem Stapel Ananaskisten eines verstorbenen Englischlehrers gefischt, der in seinem Leben exakt dieselben Bücher gekauft und gelesen hatte, die ich in meinem Leben gelesen und gekauft hatte. Ich stand vor sieben Jahren vor sieben Ananaskisten mit meinem eigenen Nachlass. Jetzt schwebten die Bücher über der Galaxie und ich war unsicher, ob sie für immer verloren waren. Ich ging zurück in meine Realität und am Abend lief ich nicht direkt nach Hause sondern zu meinem Nachbarn Ray. Ich erzählte ihm nichts von der Galaxie. Er wärmte ein Süßholzcurry auf, während ich auf meinen Atlantismoment wartete.
In der zweiten Nacht der Galaxie träumte ich von Zahlen. Das schwarze Biest Aleister Crowley brauchte, trotz fiebriger Erkältung, 27 Tage und 12 3/4 Stunden, um „Diary of a Drug Fiend“ zu schreiben. Er schrieb genau 4321 Wörter pro Tag. Ray Bradbury musste wegen seiner kleinen Tochter jeden Tag seine Wohnung verlassen, um die fünfzig Tausend Wörter von Fahrenheit 451 zu schreiben. Er mietete im Keller der städtischen Universität einen Platz an einer Schreibmaschine für 10 Cent pro halbe Stunde, setzte sich mit einem Säckchen voll Kleingeld an die Tasten und beendete die erste Fassung innerhalb von 9 Tagen, sie kostete ihn neun Dollar und achtzig Cent an Schreibmaschinenmiete. Jimi Hendrix ließ sich 1967 im Landmark Motor Hotel 100 Dollar in kleine Münzen umtauschen, um die ganze Nacht auf dem elektrisch vibrierenden Bett seiner Honeymoon Sweet reiten zu können und den ganzen Flur auf einen Ritt in seinem Zimmer einladen zu können. Ich träumte vom zwanzigjährigen Hologram Roberto Bolaños im Jahr 2666 auf einem schwarzen Motorrad, eine Flasche Tequila für zwanzig Freunde in der Armbeuge und drei Notizbücher mit den Gedichten, die ihm nicht peinlich sind, in seinem verkohlten Rucksack.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war die Galaxie immer noch da. Dieses Mal war ich mir sicher, dass sie über Nacht größer geworden war. Mir fiel auf, dass die Galaxie keinen Rand hatte, sie hörte einfach irgendwann auf. Die Luft um die Galaxie sah normal aus. Ich beschloss, mutiger zu sein und setzte mich an die Bettkante. Die Galaxie über meinem Schreibtisch schwebte jetzt etwa einen Meter vor meinem Gesicht. Sie strahlte weder Wärme noch Kälte aus. Sie bewegte sich nicht. Sie machte kein Geräusch. Ich betrachtete ihren Rand, den es nicht gab. Der blaue Koffer lag jetzt geöffnet vor meinen Füßen. Auf einem Metallschild, das in der Mitte des mit bunter Seide gefütterten Koffers angeklemmt war, las ich die Worte „Smith-Corona“. Ich wusste nicht, ob das alles so in Ordnung war. Es war die erste Galaxie, die ich in meinem Leben gesehen hatte. Ich ging noch näher heran und nahm ein Blatt Papier von meinem Schreibtisch und ließ es unter die Galaxie gleiten. Das Blatt landete einfach auf dem Schreibtisch. Es war kein Trick. Die Galaxie schwebte wirklich etwa zwanzig Zentimeter über der Schreibtischoberfläche. Ich führte meine rechte Hand unter die Galaxie und bewegte sie ein paar mal von der einen zur anderen Seite. Es passierte nichts. Auch in ihrer Nähe spürte ich weder Wärme noch Kälte. Ich bewegte mich um den Schreibtisch herum und ließ meinen Arm hinter die Galaxie gleiten. Auch dort war nichts zu spüren. Man konnte sie auch nicht riechen, obwohl ich mir einbildete, einen leicht silbrigen Geschmack auf der Zunge zu haben, während ich so nah an der Galaxie stand. Ich beschloß, meinem Nachbarn Ray von der Galaxie zu erzählen, wenn ich am Abend aus meiner Realität heimkommen würde.
In der dritten Nacht der Galaxie träumte ich von einem gesunden Franz Kafka, der mich wie in einer Fernsehshow durch seine letzte Wohnung in Steglitz führt, einen Tag bevor er stirbt. Am Küchentisch sitzt Dora Diamant, barbusig und Zeitung lesend, ihre schwarzen Locken mit einem Band aus Apfelschale zusammengebunden, das sie in einem Stück von einem faulen Apfel geschält hat. Franz könne es sich im Moment nicht leisten, ihr ein echtes Haarband zu kaufen. Als wir an ihr vorbeigehen, legt sie die Zeitung kurz auf den Tisch und hebt ihre Hand zum Gruß. Sie kann nicht lächeln. Sonst besteht die Wohnung nur aus Kafkas Bett, in dem er die Tage und die Nächte verbringt. Er zeigt mir seine Sammlung pornografischer Magazine - er habe sie abonniert - und zählt mir seine drei Lieblingsbordelle in Prag auf. Er favorisiere Analsex, Oralsex komme an zweiter Stelle und an dritter Stelle Masturbation. „Ich masturbiere jeden Abend vor dem Schreiben!“ sagt er und legt sich in sein Bett, um zu sterben.
Ray hatte vorgeschlagen, sich die Galaxie einmal anzusehen, falls sie am nächsten Morgen noch da wäre. Es war ein Samstag und er musste nicht in seine Realität und ich musste nicht in meine Realität und er fand, das seien gute Voraussetzungen, um sich um die Galaxie zu kümmern. Auch wenn er selbst noch keine Erfahrung mit Galaxien gemacht habe, so sei er doch so etwas wie ein Experte auf dem Gebiet und wenn man sich um eine Galaxie kümmern müsse, sollte man so viel Zeit wie möglich zur Verfügung haben. Worin genau seine Expertise bestand, wusste ich nicht. In der Biografie auf seinem Weblog bezeichnete er sich immer als „Kassierer im Pfandhaus des Universums“. Was er wirklich machte, wusste ich nicht. Die Galaxie war immer noch da und deshalb kam er am Samstag um neun Uhr Morgens zu meiner Wohnungstür und klopfte an. Er bat mich, ihm genau zu schildern, was ich gemacht hatte, bevor ich die die Galaxie zum ersten Mal gesehen hatte und er tat es mir nach und hängte seinen Mantel an den Haken, zog seine Schuhe aus und legte sie in den Schrank in meinem Flur und betrat, barfüßig wie ich, nach mir das Schlafzimmer. Die Galaxie schwebte über dem Schreibtisch und war auf einen Durchmesser von 40 Zentimetern gewachsen. Wir setzten uns auf die Bettkante und betrachteten die Galaxie. Ich war mir nicht sicher, ob er sie auch sah. Ich hoffte es. Dann sagte er, dass das zu einem Problem werden könne. Er fragte mich, wie sehr die Galaxie gewachsen war, seit ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Ich erzählte ihm, dass es vielleicht 10 Zentimeter waren. „Das habe ich befürchtet“, sagte er. Ich hätte keine Chance, gab er mir zu verstehen. Die Galaxie breite sich aus, das sei die Natur des Universums. Und der Ausbreitungsgrad meiner Galaxie sei als verheerend einzustufen. Ich müsse mich damit abfinden. Die Galaxie sei unaufhaltsam. Man könne lediglich versuchen, den Wachstumsprozess zu entschleunigen. „Wie soll das gehen?“, fragte ich Ray. „Nichts entsteht, ohne das etwas verbraucht wird“, sagte Ray. „Die Galaxie kann nur wachsen, wenn sie die Welt um sich herum in sich aufnimmt. Du hast seit Dienstag bereits einen Durchmesser von 10 Zentimetern deiner Wohnung an die Galaxie verloren. Wir können sie vielleicht für einen Moment täuschen, bis uns etwas Besseres einfällt!“ Er nahm ein dunkelblaues Bettlaken aus meinem Schrank und gab mir zwei Zipfel davon in die Hand, spannte das Laken zwischen uns und zählte runter. „3, 2, 1,“ und wir warfen das Laken über die Galaxie, die darunter verschwand. Das Laken schwebte nun über dem Schreibtisch. Es hatte kein Geräusch gemacht, als das Laken die Galaxie berührt hatte. „Du musst mir versprechen, die Galaxie unter dem Laken zu lassen und vor allen Dingen musst du mir versprechen, nicht in die Galaxie hineinzusehen!“ - Erst in diesem Moment war mir aufgefallen, dass ich die Galaxie bisher zwar von allen Seiten aus betrachtet, aber nie in ihre Mitte geschaut hatte. „Warum?“, fragte ich Ray. „Vertrau mir“, sagte Ray. Dann klopfte es an der Tür. Es war der Bruder unseres Nachbarn Richard, der unsere Hilfe brauchte. Wir gingen runter in den ersten Stock, wo Richard gelebt hatte, bevor er seinen Atlantismoment verpasst und sich in seinem Kellerraum mit einem Kabelbinder an einem Abwasserrohr erhängt hatte. Das war etwa einen Monat her. Es hatte fast zwei Wochen gedauert, bis jemand gekommen und ihn in seinem Keller gefunden hatte. Der Leichengeruch war nicht bis in die oberen Etagen vorgedrungen, uns ist nur irgendwann aufgefallen, dass das Obst in unseren Wohnungen schneller faulte und immer mehr Fliegen bei uns wohnten. Wir schleppten Richard’s Bücher und sein Bett aus dem Haus, mehr hatte er vor seinem Tod nicht mehr besessen. Richard’s Bruder wollte alles verbrennen. Im Kühlschrank fanden wir noch einige Tüten Capri-Sonne, jeder bekam zwei und wir standen auf Richard’s Balkon, starrten in den pinken Himmel vor seiner leeren Wohnung und tranken Capri-Sonne und erinnerten uns an seine Geschichten und die Bücher, die er irgendwann mal rausgebracht hatte und die dann irgendwann niemand mehr lesen wollte.
In der vierten Nacht der Galaxie träumte ich von Richard in einer Badewanne voller Zucker. Ich träumte, wie ich ihm erzähle, dass der Tod ein kleiner Mann mit Nelken auf dem Kopf sei und dass seine Bücher wieder gelesen werden und das seine Tochter bei der Beerdigung geweint habe und dass es eine gute Entscheidung gewesen sei, sich zu erhängen und nicht das Gewehr zu nehmen, dass er sich von seinem Bruder geliehen hatte und das sie einen Film über ihn machen würden und eine Parade in Aprilstadt und ich sagte ihm, dass die Leute nur gut über ihn sprachen seit er Tod war und dass er sein Glas mit Mayonnaise immer noch bei mir stehen habe und das Ray immer noch sein Süßholzcurry koche jede Woche, auch wenn er nicht mehr vorbeikommt um sich einen Teller abzuholen und ein Glas Calvados zu trinken und auf den Atlantismoment zu warten.
Am nächsten Tag schwebte das Laken immer noch über dem Schreibtisch. Wenn es nach Ray ging, war die Ausbreitung der Galaxie so oder so unausweichlich und ich beschloss, zum Protagonisten der Sache zu werden. Ich kochte mir einen Kaffee, zündete mir eine Zigarette an und setzte mich vor das schwebende Laken. Dann zog ich das Laken von der Galaxie und sah sie mir an. Sie war um fünf Zentimeter im Umfang gewachsen, seitdem wir sie mit dem Laken bedeckt hatten. Ich betrachtete den Rand der Galaxie, den es nicht gab und rauchte die Zigarette zur Hälfte und nahm einen Schluck von dem Kaffee, den ich mit dem Kaffeesatz des Vortags aufgebrüht hatte und löschte dann die Zigarette in der grauen, geschmacklosen Brühe und stellte den Becher auf den Fußboden. Ich fuhr mit meinem Blick den gesamten Rand, den es nicht gab, des tiefschwarzen Kreises ab und als mein Blick wieder an der rechten Kante der Galaxie angekommen war, wanderte ich mit den Augen weiter zur Mitte, bis ich den für mich mittigsten Punkt im Fokus hatte. Ich sah nichts. Das tiefe Schwarz, das nicht so tief war wie in der Nacht, war in der Mitte genauso schwarz wie am Rand, den es nicht gab. Ich ließ den Blick auf die Mitte gerichtet. Der bittere Geschmack des Kaffees mischte sich auf meiner Zunge mit diesem leicht silbrigen Geschmack. Ich schluckte und der Geschmack war eindeutig da, wie am zweiten Tag der Galaxie, als ich ihr zum ersten Mal nahe gekommen war. Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen und öffnete sie wieder. Ich blickte direkt in die Mitte der Galaxie und nach einigen Minuten meinte ich etwas erkennen zu können. In der Galaxie begann ein Prozess. Wie ein riesiger Milchozean schwappte die Materie in der Galaxie von einer rechten zu einer linken Küste. Es sah aus wie ein Polaroid, das unbelichtet aus der Kamera kommt und dann die Chemikalien aus der Tasche am Rand des Polaroids von unsichtbaren Händen ozeanblau über das schwarze Foto gedrückt werden. Es war wie bei dem Versuch unsere Galaxie von der Erde aus zu fotografieren, es kam auf die Belichtungszeit an. Je länger ich in die Mitte der Galaxie starrte, desto deutlicher konnte ich sie erkennen. Nun hatte sie auch einen Rand und an ihrem Rand erkannte ich Strände, an den Stränden des Milchozeans gab es Häuser aus Buchseiten, die mit karamellisiertem Wassermelonenzucker zusammengehalten wurden und das Wasser an den Stränden reflektierte den gelben Bleistifthimmel und die Galaxie war ein illustrierter Mann mit Händen die Städte waren und 723 Tättowierungen die zu Wäldern wuchsen und der junge Tod saß in einem Café am Strand und schoss Leuchtpatronen zum Farbbandfirmament, die die wahre Einsamkeit versprühten, die Einsamkeit, die auch unter Menschen nicht verschwindet. Meine Konzentration ließ langsam nach und ich bewegte meinen Blick wieder zum Rand der Galaxie, doch ich fand ihn nicht. Nach rechts hin erstreckte sich ein riesiges Bleistiftgebiet, das nicht endete und nach links hin hatten sie die Raffinerien für den Zucker gebaut und ich kreiste mit meinem Blick durch die Galaxie und sah zu wie mich die Galaxie zu ihrem Ende führte, während ich nicht mehr herauskam.
In der letzten Nacht der Galaxie träumte ich von Lucia Berlin und wie sie in der Küche Bourbon kippt und Geschichten tippt, nachdem sie ihre Kinder zu Bett gebracht hat und wie sie in einer kleinen Propellermaschine über die mexikanische Grenze fliegt, um ihren heroinsüchtigen Mann zum seinem nächsten Trip zu bringen, weil es eine gute Kurzgeschichte hergibt und die Grenze zu Mexiko aus der Luft wunderschön aussieht und ihre Kinder im Fußraum der Maschine gut schlafen können und ich träumte, dass sie ihren Mann abwirft und nach Kuba fliegt und Reinaldo Arenas mit ihrer Maschine abholt, bevor er in Vergessenheit geraten kann und sich in New York von Babybrei und Whiskey ernähren muss, während er all die Romane noch einmal schreibt, die Fidel Castro von ihm hat verbrennen lassen. Ich träumte von der verkohlten Truhe Fernando Pessoas. Ich träumte von Wolfgang Herrndorfs Revolver. Ich träumte von Marc Fischers Gitarre. Ich träumte von Ingeborg Bachmanns Traumtagebuch. Ich träumte vom Birnensaft auf Bioy Casares Hemdkragen. Ich träumte von Ray’s Curry. Ich träumte von Richard’s Einmachgläsern. Ich träumte von der alten Galaxie. Und ich träumte, wir wären alle nur Hologramme in Morels Erfindung auf dieser Insel am Rande des Bleistiftgebiets.
Zu Lebzeiten
“Selbst wenn wir wissen, dass ein nie zustande kommendes Werk schlecht sein wird, ein nie begonnenes ist noch schlechter! Ein zustande gekommenes Werk ist zumindest entstanden. Kein Meisterwerk vielleicht, aber es existiert, wenn auch kümmerlich wie die Pflanze meiner gebrechlichen Nachbarin.”
Ich werde es müde, mit Menschen über Online-Plattformen zu reden, Menschen, die darin den einzigen Wert ihrer Arbeit zu finden suchen. Paul Auster hat mal über das Schreiben gesagt (sinngemäß): Mit 20 ist jeder ein Schriftsteller, bei den Dreißigjährigen sind es schon sehr viele weniger, mit 40, 50 schreiben nur noch die, die nicht anders können. So werden auch die Fotografen ausdünnen, die nur für die Online-Welt Fotos machen. Die Leute mit 2K Followern sehnen sich die 5K herbei, die mit 5 die 10, 20 die 50, 50 die 100 und auf dem Weg fällt einem plötzlich auf, wie egal es ist und in welche Abhängigkeit man sich zu einer Plattform begeben hat, die in einem nichts sieht außer Werberelevanz. Was bleibt, sind die Begegnungen, die daraus entstanden sind.
Franz Kafka hat 1912 mit knapp 30 seinen ersten Kurzgeschichtenband „Betrachtung“ herausgebracht. Auflage: 800 Stück. Kurz vor seinem Tod kam der Band „Ein Landarzt“ heraus. Kafka war in Literaturkreisen nun schon bekannter, mehr als 10 Jahre nach der ersten Veröffentlichung. Auflage: 2000 Stück. Er hat über Jahre hunderte Briefe an seine Freundinnen Felice Bauer und später Milena Jesenská geschrieben, die zum Schönsten gehören, das jemals verfasst wurde. Empfänger: 1. Seine Tagebücher und Notizhefte sind noch heute mein ständiger Begleiter. Leser zu Lebzeiten: 0.
Kafka hörte nie auf zu schreiben. Arbeitete bei einer Versicherungsgesellschaft von morgens bis nachmittags, lief nach Hause, schlief eine Stunde, ging spazieren, aß etwas Käse und Nüsse zu Abend und wenn alle Geräusche im Hause verstummt waren, schrieb er von 10 Uhr bis 3 Uhr nachts oder länger in seine Hefte und rannte morgens wieder zu seiner Versicherung, sich selbst stets sein schärfster Kritiker. Alle Künstler sind eitel. Und der bloße Akt des Veröffentlichens ist dafür Beweis genug. Wir müssen uns glücklich schätzen, so einfach wie heute so viele Menschen erreichen zu können. Und trotzdem hat nichts davon Wert ohne die konstante, manchmal mühsame Arbeit am Werk. Denn wie oft ist das, was wir für uns fotografieren, für uns schreiben oder malen, im Rückblick weitaus bedeutender als das, was wir für andere erschaffen?
Jack Kerouac schrieb Roman um Roman, bevor er 1957 mit “On the Road” endlich einen Erfolg hatte. Da war er 35 und sah aus wie 45, weil er tatsächlich die meisten Geschichten aus seinen Roman selbst gelebt hat und danach scheuchten sie ihn durch alle Talk Shows, wo er jedem von der Schriftrolle berichten durfte, auf der er “On the Road” in wenigen Wochen zusammengetippt hatte. Die Geschichte trug zum Mythos bei und dass er zuvor unzählige Versuche, den Roman zu schreiben in den Sand gesetzt hatte, interessiert danach niemanden. Nach “On the Road” wurden endlich auch seine früheren Romane nach und nach an die Öffentlichkeit gebracht. Die Verkaufszahlen sanken jedoch stetig und er konnte nie wieder an den alten Erfolg anknüpfen. Trotzdem schrieb er weiter, bis er sich irgendwann zu Tode soff.
Öffentlichkeit ist ein wichtiges Element im Schaffensprozess. Peter Handke schrieb einmal in einem Brief an seinen Verleger Siegfried Unseld, nachdem eines seiner Theaterstücke großen Anklang fand: “Man hat doch zu viel von sich auf seine Gebilde übertragen und lebt erst richtig auf, wenn diese in den Leuten aufleben.” Trotzdem kommt das Werk immer vor der Rezeption. Und wer sich trotz ausbleibender Reaktion auf seine Arbeit nicht von der Schreibmaschine oder der Kamera loseisen lässt, ist in meinen Augen ein ebenso würdiger Künstler wie die, die man im Louvre findet. Ich könnte es niemals so treffend ausdrücken wie Fernando Pessoa:
“Selbst wenn wir wissen, dass ein nie zustande kommendes Werk schlecht sein wird, ein nie begonnenes ist noch schlechter! Ein zustande gekommenes Werk ist zumindest entstanden. Kein Meisterwerk vielleicht, aber es existiert, wenn auch kümmerlich wie die Pflanze meiner gebrechlichen Nachbarin. Diese Pflanze ist ihre Freude, und hin und wieder auch die meine. Was ich schreibe und als schlecht erkenne, kann dennoch die eine oder andere verwundete, traurige Seele für Augenblicke noch Schlechteres vergessen lassen. Ob es mir nun genügt oder nicht, es nützt auf irgendeine Art, und so ist das ganze Leben.” - Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe
Ein Roman aus den Pailletten von Josephine Baker
In dieser Folge geht es um eine Leidenschaft von mir: Briefe und Tagebücher.
In dieser Folge geht es um eine Leidenschaft von mir: Briefe und Tagebücher.
Liegengelassenes
Notizen aus der Niemandsbucht. Neue Anfänge. Außerdem Mayröcker, Smith, Amaral O'Nan, Fitzgerald, Hannah.
Notizen aus der Niemandsbucht. Neue Anfänge. Außerdem Mayröcker, Smith, Amaral O'Nan, Fitzgerald, Hannah. Hoffe, die Tonqualität ist in Ordnung.
Rausgerissenes
Gerüche, das Licht, der Auslöser, die tiefen Augen, die Haut, Haarsträhnen, alles ist Plattenhören im Pastisrausch, Knistern und Wellen auf den Innenseiten meiner Augenlider.
17. Juli 2020, 17:20 Uhr
Ich habe vergessen, wie es aussieht, wenn sich jemand zum ersten Mal eines meiner Bilder ansieht. Ich habe eine sehr abgewandte Haltung zu ihnen bekommen. Sie existieren neben mir. Wie ein Schatten, nicht wie ein Spiegelbild. Richard Brautigan schrieb in seinem Vorwort zu „Die Pille gegen das Grubenunglück von Spring Hill“: „Ich schreibe die Bücher bloß, ich bin nicht der Hüter ihrer Seiten. Ich kann mich doch nicht ewig um sie kümmern. Das wäre ja glatter Unsinn.“ Ich wünschte es wäre kein Unsinn. Ich suche die Nähe meiner Arbeit hier und da, doch immer scheint sie mir entglitten, die Berührung verflüchtigt, der Moment vergessen und aufgelöst. Beim Schreiben ist es anders. In meinen alten Notizheften vermag ich in mancher Seite noch einen Funken zu finden, der mich mit meinem damaligen Sentiment verbindet. Mit den Fotos ist es eins geworden. Gerüche, das Licht, der Auslöser, die tiefen Augen, die Haut, Haarsträhnen, alles ist Plattenhören im Pastisrausch, Knistern und Wellen auf den Innenseiten meiner Augenlider. Vielleicht liegt es daran, dass mir die Geschichten abhanden gekommen sind, alles nicht mehr Teil einer Erzählung war ab einem bestimmten Punkt, das Ende des Romans und der Beginn eines niemals endenden Kurzgeschichtenbandes. Manchmal, da sehe ich Menschen meine Fotos betrachten, vielleicht bedeuten sie ihnen irgendwas, sie schauen sie an wie das Foto eines Geliebten, manchmal. Sie sind, und waren, immer meine Realität, auch wenn sie mit ihrer nichts zu tun hatten. Und jetzt sitze ich in diesem Café und trinke Cola und verliere mit jeder Sekunde eine Erinnerung an die Sanduhr meiner Unsicherheit.
17. Juli 2020, 18:30 Uhr
Doch lasst mich, das hier ist kein Manifest des Trübsals, das bin immer noch ich, die Antenne im Wind, den Empfänger aufs Radiomeer, verblühend und 36, und sehe die Farben vor mir, nicht im Rücken. Und die Cola ist zu Wein geworden und die Sandkörner fallen schneller, und doch weicher an diesem Nachmittag, an dem ich wieder an allen Orten gleichzeitig bin, doch nirgends wirklich.
21. Juli 2020, 12:40 Uhr
Vor ein paar Wochen ist mir eine ganze Patrone orangener Tinte ausgelaufen in meiner Ledertasche. In der Sonne neben meinem Tisch sieht der getrocknete Fleck aus wie die Silhouette eines totgefahrenen Hüttensängers.
21. Juli 2020, 13:30 Uhr
Alles hier wirkt französisch. Nichts ist es.
22. Juli 2020, 18:39 Uhr
Sie trägt eine Zeitung unter dem Arm und geht in ein Café. Wer macht sowas noch?
4 Minuten später…
Ich trage seit Wochen ein Notizbuch mit mir herum und habe noch nicht eine Seite beschrieben. Es ist sehr schwer. Obwohl es nur Papier ist.
25. Juli 2020, 8:42 Uhr
Von einer Frau geträumt, die in Leinenkleidern lebt und Blüten als Lesezeichen nimmt. Wenn sie mit einem Buch fertig ist, ist die Blüte getrocknet. Sie lässt sie auf der letzten Seite zurück und stellt das Buch in ihr Regal. Ihre Bibliothek - ein unsichtbarer Garten.
Holt die Netze Stardust Kids
Wir werfen Blätter ins Wasser
eisern tauchend im Schaum
zwischen Coladosen und Motoröl
ersäufen wir unseren Traum
Unter wegloser Blauküstennacht
Füße und Felsen im Schaumriff
Augen im Norden
die Küstenstadt
der Hafen, die atmenden Lichter
kein Sommerlied mehr
Herbstgesang, Laternenwehen
Mastbruch und Abspann.
Wir werfen Blätter ins Wasser
eisern tauchend im Schaum
zwischen Coladosen und Motoröl
ersäufen wir unseren Traum
Ein Junge ruft vom Strand
Schreie, kindlich und müde
fallen stumm ins Meer vor mir
den Rest inhalieren die Sterne
niemand hört uns noch singen
mit salzigen Zungen
von der geliehenen Zeit
aus meerfeuchten Lungen
ewige Wellen weit.
Und wir werfen die Blätter ins Wasser
eisern ertrinkend im Schaum
zwischen Coladosen und Motoröl
ersäuften wir unseren Traum
Fragment, Landau in der Pfalz, September 2019
Morro dos Cabritos
und man sieht den Regen
in den Laternenkegeln der
Rua Joaquim Nabuco und riecht
das Meer edel überschlagend im Rücken
und in der Ferne die Lichter
dieser Nacht
Die Wilden, die sie nicht
sehen wollen, sperrt man
in Rio auf den Berg
ich weiß das
denn von meinem Balkon
habe ich direkte Sicht und
das eiskalte Bier lässt die feuchte Luft
zu Tropfen auf der Dose
in meiner Hand tauen
und Frederico spielt im
Nebenzimmer den nächsten
Caetano Veloso Schlager
aus der Zeit als man noch
nicht gemäßigt war
1967 oder 1968 oder 1969
und man sieht den Regen
in den Laternenkegeln der
Rua Joaquim Nabuco und riecht
das Meer edel überschlagend im Rücken
und in der Ferne die Lichter
dieser Nacht, Nacht
die sich den Berg
hochwindet und hier und da
vor Unmut flackert
Sie haben sie dort
eingezäunt die Wilden
und bewachen die einzige
Verbindungsstraße zwischen
Elend und Musik runter nach
Copacabana und Ipanema
und hundert braune Soldaten
warten im Gewitter und
putzen ihre Panzer und
Hunter Thompson saß genau
hier auf dem Balkon
vor fünfzig Jahren und
schaute landeinwärts auf dieselbe Favela
als Caetano noch ein Rebell
und der Rum billiger als Bier war
Vor Jahren gab es einen Stromausfall
in Brasilien und die Laternen
an der Copacabana gingen aus
und die Musik in den Bars
von Ipanema verstummte
und der ganze Küstenstreifen
versank in der Nacht
und ich stelle mir vor
wie sie dort oben
wie glücklose Gatsbys
vor ihren Bretterbuden standen
als die grünen Kneipenlichter
des Bossa Nova
an und wieder aus und wieder an
und dann endgültig ausflackerten
und wie sie sich plötzlich
sicher waren dass es noch
etwas anderes geben würde
und sich auf ihre Mopeds warfen
und der gesamte Berg runter
in die Stadt stürzte wie eine
Lawine der Vergeltung und wie
das Gesetz des Stärkeren herrschte
nur für diese eine Nacht.
Ich stelle mir vor
ich sei einer von ihnen
gewesen und die Reichen
in ihren weißen Häusern
weinten und ich nahm es ihnen
nicht übel und sie nahmen es
mir nicht übel
Und die Weichheit wich
aus ihrer Sprache und
sie versteckten sich am
Meeresboden und hofften
ein letztes Mal
auf die braunen Schwarzhelme
denen sie ihr Leben abkauften
für das Kleingeld am Boden
ihrer Leinentaschen und
sie hatten Glück
denn ihr Reichtum
ist nicht weltlich
sondern geschichtlich.