Das Theater der Häute

1. Januar 2022, Abend

Endlose Nahaufnahme. Ich habe die Welt verlassen, begehe Gedichte. Das Romanhafte ist lachhaft unglaubwürdig.

2. Januar, Nachmittag

Ausstellungsbesuch Maria Lassnig im Käthe-Kollwitz-Haus. Eine Ecke mit ausgelegten Texten in kleinen Broschüren. Darin in etwa der Satz oder Aufruf: „Kommt der Veränderung zuvor, die die Zeit mit uns vorhat.“ Der Gedanke an die vergangenen Monate und das Gefühl, Nachhang oder Nachtrag der eigenen Biografie gewesen zu sein.

Am Morgen Besuch der Messe im Dom, die Beuys-Türen und die Bitte an mich, als Mann, doch den Hut abzusetzen. Der Sorrentino-Chor hinter den grauen Pfeilern, nur zu hören, nicht zu sehen. Näherungen an jenes höhere Wesen. Frühstück im Funkhaus. Erinnerung an 2007, als ich die gesammelten Tonaufnahmen von Heinrich Böll habe mitgehen lassen (30 CDs) und seine Stimme über Monate in meinem Wohnzimmer laufen ließ, mein rheinischer Mitbewohner. Seine Texte blieben mir fern, auch das irische Tagebuch, doch seine unbeteiligte, monotone Stimme rettete mich in Zeiten der unerhörten Stille.

2. Januar, Nacht

Zumindest zurück bei diesem Notizbuch, was nicht mehr zu erwarten war. Fülle in den letzten Wochen jeden Tag ein paar Seiten und drücke mich vor der Welt. Für einige Stunden ist das Geräusch meines Bleistifts auf dem Papier wenigstens von ähnlicher Lautstärke wie die Gedanken in meinem Bruchschädel. Manchmal Vorfreude auf den Tag nach der Nacht. Das Ende der Endlosigkeit. Die Nächte gehen ohne Naht über in bauchige Morgen, die sich über den Nachmittag ausgießen. Ich betrinke mich an der Zeit, die nicht zur Verfügung steht und die gerade deshalb so besoffen macht. Morgen werde ich zu diesen Seiten zurückkehren. Die Tinte ist warm.

Das Theater der Häute | 4. Januar, Morgen

Der Rückstand auf die Utopien verringert sich kurzläufig. Die Spitze des linken Schuhs dolcht Schritt um Schritt vorwärts, der Körper seitlich im Wind, gleichsam die nachgezogene Innenseite des rechten Schuhs, die Sichel um Sichel den Abgrund abtastend unterschwingt, entsetzliche Bewegung einer an der Mitte des Rumpfes zerteilten Raupe. Der Taghimmel Nacht und die Gesichter im Kohleflimmern der mondverhangenen Sonne. Alles schwebt.

Ein einzelnes Haar von Dir verfängt sich an der Spitze meines Federhalters und schiebt die Tinte der nassen Sätze wie eine perlschwarze Decke über diese Seite. Dahinter ein Theater, ein Vorhang aus Knochen, eine blutende Bühne und zum Trocknen aufgehangene Nervenenden über einem Holzstuhl. Jemand hat jemanden gehäutet und über die Samtränge verteilt. In der Loge singt eine einsame Mutter die unsichtbaren Kapitel des Paradiso von Lima. Im Grunde bleibe ich weltenlos.

7. Januar, Nacht

Jede Zeile und jeder Absatz eine faule Errungenschaft. Im Moment, da ich das letzte Wort aufs Papier bringe, fühlt es sich gleichsam an, als wolle ich die Seiten nur mit schlechten Argumenten überzeugen, meine Tinte nicht aus Abscheu wieder abtropfen zu lassen.

Splitter | 10. Januar, Abend

Du sagtest, du wollest
in meine Iris steigen,
mir den Splitter klauen,
das Blau eimerweise abtragen
und damit das Haus anstreichen
in dem du schreiben willst

Zapfen für Zapfen
wollest du das blasse
Blau herausbrechen
und mein Azur ernten
Bis mir die Welt grau
durch die Pillen sticht
und wir zu zweit
in den Blaudrucken
ersaufen

Dass du Diebin bist
gefiel mir als Erstes
an dir.

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