Ein Bewohner von Mlejnas und Tlön
Mehr Rausgerissenes aus meinem Notizbuch, more to come.
20. Januar, Weimar | Briefentwurf für den Newsletter
Seit Tagen der Versuch, ein paar Worte für diesen Brief aus meinem Notizbuch zu kratzen. In meinem Tagebuch nehme ich zu viele Rollen an, fokussiere Tagesgefühle oder kompensiere sie, steige in unterschiedliche Varianten meines Ichs, Kostüme, Masken, die als solche wirken. Sie spannen und meine Augen tränen. Manchmal wie bei Gantenbein, genauso schlecht mindestens. Manchmal fällt mir die grüne Tinte an meinen Hemdsärmeln auf, die Tinte an den Fingerkuppen, die dicken getrockneten Tropfen auf dem Schreibtischholz. Ich habe hier eine Art Geheimschrift begonnen, die niemand entziffern kann, meist nicht mal ich. Beim Notieren fällt es mir nicht auf. Ich überspringe Buchstaben, verziehe drei davon zu einem, tausche sie willkürlich aus. Als ich durch die ersten fünfzig Seiten geblättert habe, die ich seit Dezember hier reinschreibe, um ein paar Absätze für diesen Brief zu finden, musste ich feststellen, dass fast die Hälfte der Seiten kaum lesbar ist. Vor allem die nächtlichen, im Affekt entstandenen Notate, es könnten genausogut Zeichnungen sein. Die Lücken meiner Erinnerung haben sich auf mein ohnehin abartiges Schriftbild übertragen. Die einzig lesbaren Teile dieses Buchs zeichnen zeichnen ein fragwürdiges Bild meines Blickes auf mich selbst. Ich war immer schon ein Zweifelnder, manchmal glücklicherweise nicht sehr versiert. Das Drehen um mich selbst ekelt mich an, selbst wenn ich das mitdenke beim Schreiben und mir trotzdem nicht helfen kann, mein Narzissmus abides. Seit Jahren lasse ich Euch diese Runden um mich herum mittanzen, es ist also wichtig für mich, Adressaten zu haben, sonst taugt mir das alles hier nicht. Immer drücken Sie einem das Ideal ins Gesicht, man müsse doch zu allererst für sich selbst schreiben, doch ohne Zuschauer ist mein Notizbuch ein Massaker. Grüne Attentate auf mich selbst hinter verschlossenen Türen. Also will ich wieder zu meinem alten Rhythmus zurück und alle paar Tage einige Absätze aus diesem Buch für meinen Blog verwerten oder diesen Newsletter. Ich wollte Texte veröffentlichen seit ich ein Kind war, ob gerechtfertig oder nicht, dem habe ich nie Bedeutung beigemessen für lange Zeit, ich hatte den Drang, ein wie auch immer geartetes Publikum zu finden, sei es auch imaginär… (abgebrochen)
21. Januar, Weimar
Rede ständig von Ewigkeit, jeden Gedanken darauf anlegend, doch das Handeln…
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Arno Geiger, Das glückliche Geheimnis: „Die Fähigkeit, zu warten, wird über Zeit zu einer Schwäche.“
22. Januar, Weimar | Morgen
Und die Vorhänge weinen im Wind und die Bücherregale stehen müde ihr Holz und sehen wehmütig den Schuhen nach, die ihr Leben jeden Tag neu auftragen.
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Nietzsche: „mohnblumige Tugenden“
23. Januar, Weimar
Aus den Notizen Tranströmers: „Ich habe so kärglich an euch geschrieben. Doch was ich nicht schreiben konnte, schwoll und schwoll an wie ein altmodisches Luftschiff und glitt schließlich durch den Nachthimmel davon.“ - ausgehend von diesem Zitat, würde ich gerne einen Brief an Michael Krüger schreiben und ein paar meiner Gedichte beilegen. Ich weiß schon jetzt, dass ich es nicht machen werde.
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Gedicht für Frank, „Die Pampelmuse und Ich“, Gedichte, die nur für eine Person bestimmt sind (Padgett), auch: Gedichtreihe mit dem Titel „Warum sie weinten“.
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Wider die Kachelschreiber
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Nach dem Rhythmus geklopft und ihn nicht gefunden. Lebe seit Tagen bei den Dichtern. Kaum Maske, nur Lügen an die Welt.
23. Januar, Weimar | Abend
Varianten des Bleistiftgedichts ohne Ergebnis. Immer wieder Rückkehr zur ersten Schreibmaschinenversion von vor ein paar Tagen. Ich kann nicht allen ernstes einen wächsernen Himmel stehenlassen, nicht nachdem ich Tranströmers halbfertigen Himmel sah. Wenigstens weniger Angst vor der weißen Seite. Aktueller Stand, vielleicht lasse ich es so:
In der Nacht wacht er auf und fühlt den Schnee
vor den schwarzen Fenstern, folgt dem Silberfisch
am Türrahmen in das blaue Zimmer, eine Verfolgung,
und dort soll er prüfen, prüfen und messen und wägen,
- vertrauen ihm die Bleistifte noch?
In den Vororten schlagen die Wellen an die Kennzeichen
und doch hat es vorläufig erst recht einen neuen Morgen,
die Bleistifte beratschlagen einen Nachmittagsaufstand und es
singt ein wächserner Himmel in ein Streichholz ohne Kopf
- hier endet dein Verstand!
Die halbe Summe der Erinnerung ist Wasserwunde und
er starrt voll der Hoffnung auf seine Lederschuhe und die
dreckigen Rücken der antiquarischen Jahreszeiten wie sie
das Vorrücken des Bleibataillons auf die Bekenntnisse decken
- ist es Landnahme?
Die Vorhänge sind Mäntel im Wind, die Bücherregale
krümmen ihr Holz den Jahren entgegen wie die
Tinte an den Kuppen seiner Hemdsärmel und das
haltlose Dunkel der Wälder seines Aufbruchs sagt
- deine Kirche ist ein Stück Papier!
2. Februar, Weimar
Brinkmann, Westwärts 1+2: „die Preise für das Nirwana sind gestiegen“
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In der Nacht wache ich auf und fühle den Schnee vor den schwarzen Fenstern / Ein Silberfisch, der mich verführt / Ein Silberfisch im Türrahmen.
5. Februar, Weimar | Die Nacht auf dem Rücken
Zurück zur Phantastik. Eskapismus eskalieren lassen. Ich bin ein Bewohner von Mlejnas und Tlön. Die Erinnerung an mich wird nur eine Nacht überdauern. Cortazar, Borges. Heute ein Borges-Morgen, mehrere Ideen für den Roman, vor allem Zeittheorien. Meine Varianten der Zeitreise als solipsistischer Narzissmusversuch in Absätzen. Erinnerungsmodelle in der bereisten Vergangenheit. Vorsatzbrief im Stile Borges’ „An Leopoldo Lugones“, an Lothar den Antiquar.
6. Februar
Wiederlesen von Revenge of the Lawn. Das Vertrauen der Bleistifte war auch in Brautigans Tonlage geschrieben und da habe ich es nicht bemerkt, mich sogar abgestoßen gefühlt davon. Ich darf diese leichte Tonlage auch wieder ausfüllen.
6. Februar, später am Abend
Als es dunkel wurde, bin ich durch die Straßen von Weimar gelaufen, bis mir die Finger abfroren. Ich fand einen Platz an der Theke, die Kneipe bis auf den letzten Stuhl gefüllt. Trank Bier und las in Borges Geschichte der Nacht, „der Schädelknochen, das geheime Herz“, und jetzt, ein paar Stunden später, die roten Tintenflecken wie Blut auf den weißen Bettlaken.