The Flailing Notebook

Mehr Rausgerissenes aus meinem Notizbuch, more to come.

14. November

Vor ein paar Tagen kaufte ich einen Füllfederhalter und dieses Notizbuch. Es gab keinen Grund. Vielleicht kann ich mich mit dieser Feder wieder am Leben festkrallen. Und meine Hände mit grüner Tinte beflecken. So grün wie der Beton im Vorratskeller meiner Großeltern. Die zertretenen Stachelbeeren auf dem Boden vor dem Holzverschlag mit den feuchten Kartoffeln, die mein Großvater aus großen gelben Netzen dort hineinkippt. Ich schmecke die Milch meines Hirns auf der Zunge und sie schmeckt dort noch nicht blutig. Der graue Rockschoß meiner Großmutter. Ihr totes weißes Haar. Die Fäustlinge und die Kieselsteine. Das völlige Ausdemlebensein.

16. November

Manchmal stehe ich im Supermarkt zwischen den Kühlregalen und höre Coltrane. Dabei beobachte ich die Effizienten und die eine flackernde Leuchte hinter dem Seelachsfilet.

17. November, The Flailing Notebook

Alles wiegt ganz leicht in den Ästen, in den Gassen, durch die ich wandere, mit dem Loch in der Sohle meines linken Stiefels, diesem Notizbuch noch in der Manteltasche und dem Geist der Scrience Fiction in der Hand. Seit Wochen plane ich, ein Tagebuch der Kränkungen zu führen. Doch es taugt nur zu diesem Zeilengeschinde, da mir der Anstand fehlt. Der Schriftsteller Adam Levin schrieb einmal in der Paris Review, er nutze Notizbücher nur „when I’m traveling or when I’m flailing“. Er kommentierte damit ein paar Seiten seines Notizbuchs, die in der Review abgedruckt wurden und schrieb weiter: „I sure as hell wasn’t traveling when I wrote this…“ Flailing - wild herumfuchteln, auf etwas eindreschen, in seinem Fall vorzugsweise auf sich selbst - es trifft wohl auch auf die meisten Seiten zu, die ich hier fülle. The Flailing Notebook. That’s what this is.

19. November

Erneute Lektüre der Memoiren von Gabriel Garcia Marquez, beinahe zwanzig Jahre nach dem ersten Mal. Erinnerungen an den Winter 2004 oder 2005, die letzten Seiten des Buches kurz nach Weihnachten. Der Rotwein und mein schäbiges Manuskript unter dem Arm. Ich trug es stolz herum wie Marquez seinen Laubsturm. Die gelben Seiten in der schwarzen Kartonmappe. Der Umschlag auf dem Cafétisch in Frankfurt. Böll in den Hinterhöfen und das ganze Weinen, das ich damals gelassen habe. Die automatischen Absagen des Literaturinstituts jeden Winter und der Instantkaffee auf dem Fensterbrett.

23. November

Am diesseitigen Ende der Nacht rettete er sich als Schädel in den Morgen. Im Träumen noch Skelett, schabte er Knochen um Knochen vom Rumpf und starb in der Dämmerung.

27. November

Als ich vier war brachte mir meine Großmutter das Lesen bei. In einem Winter wie diesem. Die ins Dunkel gefallene Sonne vor dem Fenster. Die beschlagene Scheibe und der Geruch von Mandarinenschalen auf den Heizkörpern. Wir auf dem Sofa, ich auf dem gespannten Wollrock in ihrem grauen Schoß, den Rücken an ihrer Brust. Spielerisch schnippte sie mir mit ihren langen, harten Fingernägeln imaginäre Läuse vom Kopf - wir gaben ihnen Namen, bevor sie sterben mussten. Sie hieß mich vorlesen, was sie auf einem quadratischen Werbenotizblock für mich notierte. Erst Buchstaben, dann ganze Folgen von ihnen. Wald, Laub, Sand, Baum. Holz und Liebe. Ich las ihr vor und sie knipste unsere erfundenen Läuse von meinem Haar in die trockene Heizungsluft. Ihre von der Arbeit des Tages schwarz marmorierten Handflächen und mein Lokomotivführergesicht, wenn sie mir die Tränen mit ihren erdigen Fingern von der Wange wischte. Mandarinen und Nelken und der Bus, der zweimal die Stunde am Fenster vorbeikam. Wald und Sand und Holz und…

31. November

Es ist alles viel. Ein neuer Dezember und das Meiste ist abgefallen. Mein Leben häutet sich und all die Mäntel, die mir die Jahrzehnte überwarfen, werden löchrig und zerfasern im Wind der Winter. Draußen entfernt sich der Wald mit wulstigen Paraden von den Tränensommern. Zurück, zurück zu einer einzelnen Lampe am Fenster, zurückfinden zu den Klängen, die mit mir vibrieren. Die kleine Kirche dieser Seiten ist was mich noch am Leben hält.

14. Dezember

Keine Seiten.

4. Januar

Die Tage sind merkwürdig still, kein rechter Winter mehr, kein Regen, nur die Tinte an den Fingern und den Schläfen. Noch immer keine Tür. Die Milch bleibt stattlich. Zurück zu den einfachen Begebenheiten von Brasch. Die einfachen Sätze entfliehen mir weiterhin. Einfach. Falsch. Simpel vielleicht. Simple Sätze, simple Songs. Ein wiederkehrender Ton, eine sich wiederholende Note, ein fotografischer Schatten, eigentlich eine Silhouette vor einem leuchtenden Fenster. Stenografiertes Schwarz hinter dem Vorhang. Ein langer Gang vor die Hunde, lediglich in Bildern, Strophen, Zeilen und Versen, alles lächerlich aufgewärmt vor Zuschauern, die dir nach dem Leben trachten. Abgebrochene Typen, getaucht in Maschinenöl und haltbar gemacht durch Sätze, die sich nicht ohne Drohung hervorwagen. Meine Absätze sehen aus wie pure Angst. Panik in Lettern. Ein Schwanken, ein Zittern, ein Lehnen und Entlehnen, es ist scheußlich. Ich habe mit meinem Notizbuch auf dem Rücksitz eines Motorrads den lateinamerikanischen Kontinent bereist. War schiffbrüchig mit Langston Hughes. Stempelte mit Kafka den Feierabend. Ich wage es an die Luft. Es fehlt an Nichts. Ein großes Problem, vor allem in den Gedichten - das fehlende Nichts.

7. Januar

Ein enger Waldpfad ohne Lichtungen. Generell das warme Dunkel der Wälder meiner Kindheit.

Gelesen bei Geiger: „Wir waren auf eine fast unzulässige Weise glücklich.“

Zurück
Zurück

Ein Bewohner von Mlejnas und Tlön

Weiter
Weiter

Bildschirm